Bewusstsein schaffen für eine Ernährung aus regionaler Produktion und die dafür vorhandenen Ressourcen besser nutzen. Dafür setzt sich der Ernährungsrat Berlin ein. Ein Interview mit einer der Sprecherinnen, der Journalistin und Autorin Gundula Oertel.
Frau Oertel, 2016 wurde der Ernährungsrat Berlin gegründet – weshalb braucht die Hauptstadt einen solchen Zusammenschluss?
Eine Metropole wie Berlin, umgeben von einem Agrarland wie Brandenburg, hat eigentlich die besten Voraussetzungen für eine umfassende Versorgung mit möglichst in Bio-Qualität hergestellten Lebensmitteln aus der Region. Momentan aber sieht die Situation ganz anders aus. Die Landwirtschaft produziert spätestens seit dem Zweiten Weltkrieg leistungsorientiert – es geht in erster Linie um Erträge. Das ist aber nur einer der Aspekte, die zeigen, dass unsere Ernährungssysteme – auch das in Berlin und Brandenburg – nicht zukunftsfähig sind. Viele Food-Aktivisten, aber auch Erzeuger, Verarbeiter und Konsumenten wollen das ändern und so kam es 2016 zur Gründung des Ernährungsrats.
Wer kann bei diesem Zusammenschluss alles mitmischen?
Offen sind wir vor allem für alle ernährungspolitisch engagierten Privatpersonen. Kleinere Unternehmen sind aber auch als Mitstreiter willkommen – vorausgesetzt, sie teilen unsere Vorstellungen von einer ökologisch nachhaltigen Lebensmittelproduktion. Zur Gründungsveranstaltung im April 2016 kamen 170 Menschen, der Enthusiasmus war groß. Und schnell stellte sich heraus, welches unsere wichtigsten Baustellen sind.
Nämlich welche …?
Wir haben eine ganze Reihe von Forderungen zur Umsetzung einer Ernährungsstrategie für Berlin aufgestellt – denn die gravierenden Folgen unserer industrialisierten Lebensmittelproduktion und Ernährungsweise in Stadt und Land werden immer sichtbarer. Daher muss eine grundlegende Umstellung in beiden Bereichen stattfinden.
In den Stadt-Land-Beziehungen zwischen Berlin und Brandenburg beispielsweise spielt eine systematische Ernährungspolitik bisher so gut wie keine Rolle. Fatal, denn es gäbe in Brandenburg genügend Flächen für eine weitgehende regionale Versorgung mit Lebensmitteln in Berlin. Wie eine Studie des Leibniz-Instituts für Agrarlandforschung (ZALF) im letzten Jahr gezeigt hat, könnte Berlin fast zu 100 Prozent aus einem Umkreis von 120 Kilometern versorgt werden.
Weshalb aber wird die Hauptstadt momentan nur zu einem Bruchteil mit regionalen Lebensmitteln versorgt?
Dafür gibt es viele Gründe. Zum einen, wie unsere Landwirtschaft und Ernährungswirtschaft heutzutage aufgestellt ist. Noch Ende des 19. Jahrhunderts/ Anfang 20. Jahrhundert war der Selbstversorgungsanteil selbst in einer auch damals stark wachsenden Stadt wie Berlin noch vergleichsweise hoch. Markthallen wurden gebaut, die Schrebergartenbewegung sorgte dafür, dass sich auch weniger wohlhabende Menschen zu einem gewissen Anteil selbst mit Gemüse und Obst versorgen konnten.
Wodurch hat sich das so grundlegend geändert?
Mit der Industrialisierung wurden auch Lebensmittel in größeren Mengen produziert, um die wachsende Bevölkerung in den Städten zu ernähren. Die eigentliche Wende aber kam nach dem Zweiten Weltkrieg – damals ging es aus verständlichen Gründen darum, möglichst viele Kalorien mit möglichst geringem Kostenaufwand in die Läden zu bringen.
Durch die Hybridzüchtung wurden leistungsstarke Sorten entwickelt – Getreidesorten beispielsweise, aber auch Tierrassen. Das hat dazu beigetragen, dass viele alte Rassen verschwunden sind: Geflügel-, Schweine- oder Rinderrassen zum Beispiel, die nicht die Eier-, Milch- oder Fleischerträge bringen, die von den Hochleistungsrassen zu erwarten sind.
Gibt es da nicht längst eine Gegenbewegung, die sich gerade darum bemüht, die Vielfalt der Sorten und Rassen wieder zu stärken?
Ja, es gibt tatsächlich eine ganze Reihe von Initiativen, die alte Nutztierrassen rückgezüchtet haben. Was zum Beispiel bei Hühnern gar nicht so einfach ist. In diesem Bereich gibt es heute nur noch vier große Unternehmen, die de facto inzwischen das Monopol auf die Zuchtlinien für Legehennen und Mastgeflügel haben. Jeder, der beispielsweise Geflügel in größerem Stil bis zur Schlachtung aufziehen will, muss auf diese Zuchtlinien zurückgreifen.
Wesentliche Teile der Tieraufzucht und -mast sind also auf möglichst große Erträge getrimmt – darunter leiden nicht nur Tiere in Massenhaltungen, sondern auch die Vielfalt und letztlich die Verbraucher. Sieht es bei Getreide und Gemüse besser aus?
Leider nein. Weltweit sind es heute kaum noch mehr als zehn Kulturpflanzenarten – unter anderem Weizen, Mais oder Reis – von denen sich die Welt ernährt. Noch dazu liegt deren Saatgut zu großen Teilen in der Hand großer Konzerne. Eine beunruhigende Entwicklung. Saatgut ist ein jahrtausendealtes Gemeingut, das nach Auffassung des Ernährungsrats nicht exklusiv in Privathand gehört. Wer das Saatgut kontrolliert, hat auch die Kontrolle über unsere Ernährungsgrundlagen.
Was wäre aus Ihrer Sicht die Lösung für dieses Dilemma?
Wir müssen uns die Kontrolle über die Vielfalt zurückholen und uns zukünftig wieder mehr mit vielfältigen standortangepassten Sorten beschäftigen – das wird auch angesichts des Klimawandels immer wichtiger. Konventioneller Anbau von Monokulturen ist da eindeutig eine Sackgasse. Im Dürre-Sommer 2018 haben die meisten Bauern in Brandenburg extreme Ausfälle wegen der hohen Temperaturen und der Trockenheit gehabt – auch den Bio-Bauern ging es nicht gut damit. Doch dass Wetterextreme keinesfalls so einschneidende Ertragseinbußen zur Folge haben müssen, hat mir ein Fernsehbeitrag eindrucksvoll vor Augen geführt, der die Mais- und Haferäcker des Leibniz-Instituts in Müncheberg zeigte. Dort stand der interviewte Wissenschaftler vor seinen kerngesunden saftig grünen Maispflanzen und verwies auf die dicke Mulchschicht, die die Feuchtigkeit im gesunden Boden seines Bio-Ackers gehalten hatte. Und er konnte trotz Dürre normal große und viele Haferkörner vorweisen, weil er eine entsprechend robuste Sorte angebaut hatte. Das zeigt, dass das Problem vor allem in einem nicht zukunftsfähigen Anbausystem liegt.
Welche Rolle kann, welche Rolle muss die Politik bei einer grundlegenden Veränderung in der Landwirtschaft und Lebensmittelherstellung spielen?
Momentan ist unsere Politik überwiegend darauf ausgerichtet, Massenbetriebe und industrialisierte Lebensmittelproduktion zu unterstützen. Wir versuchen mit unserem Forderungskatalog auf die Entscheidungen des Berliner Senats einzuwirken – und der hat jüngst tatsächlich begonnen, eine regional gedachte, zukunftsfähige Ernährungsstrategie für die Hauptstadt zu entwickeln. Ein erster Schritt soll dabei die Einrichtung eines Beratungszentrums für den nachhaltigen Wandel der Esskultur in den kommunalen Küchen Berlins sein. Für Planung und Aufbau einer solchen Einrichtung stehen im Landeshaushalt allein für 2018/2019 rund 1,2 Millionen Euro bereit.
Reicht denn eine solche Einrichtung für eine ständig wachsende Stadt wie Berlin?
Im Bereich Gemeinschaftsverpflegung wäre das ein guter Anfang. Aber wir stellen uns für den Wandel des gesamten Systems natürlich mehr vor! Zum Beispiel, dass in den verschiedenen Stadtteilen von uns sogenannte „Lebens-Mittel-Punkte" gibt – das sind für alle offen zugängliche Orte, wo Lebensmittel sowohl von privaten Akteuren als auch von kleinen Unternehmen gelagert, weiterverarbeitet, gehandelt oder gemeinsam verarbeitet werden können, etwa in den verbliebenen Markthallen oder Großmarkthallen.
Wie sieht es mit Anbauflächen direkt in der Stadt aus?
Auch wenn angesichts des momentan boomenden Wohnungsbaus Anbauflächen in der Stadt selbst natürlich knapp bemessen sind, gibt es derzeit immerhin rund 345 Hektar (nicht wenige davon auf Dächern), die für Gemüse- und Obstanbau verfügbar gemacht werden könnten. Die Frage ist ja immer, wie diese genutzt werden. Es gibt auch innovative Ansätze wie der des Unternehmens „Stadtfarm", das mit dem System der Aquaponik in einem Nährstoffkreislauf Fische aufzieht, gleichzeitig Gemüse anbaut und damit ziemlich erfolgreich ist. Von solchen Initiativen könnten wir noch mehr gebrauchen.