Vor allem im Umgang mit Atomkraft zeigen sich die Unterschiede zwischen Deutschland und Frankreich. Bestes Beispiel: das Atomkraftwerk Fessenheim. Uralt, störanfällig, aber längst noch nicht abgeschaltet – jedenfalls nicht, bis ein neuer Meiler in Flamanville endlich ans Netz geht.
Koste es, was es wolle. Nicht nur Deutschland hat seine Geschichten um nicht endende oder kostenmäßig ausufernde Bauprojekte. In die Kategorie Berliner Flughafen, Stuttgart 21 oder Elbphilharmonie Hamburg passt auch das Drama um den Europäischen Druckwasserreaktor EPR in Flamanville in der Normandie. Seit über zehn Jahren schon baut der Betreiber und Staatskonzern Electricité de France (EDF) am Reaktor der dritten Generation direkt am Ärmelkanal unweit der Wiederaufbereitungsanlage La Hague bei Cherbourg. Das einstige technische Vorzeigeprojekt, das von der französischen Framatome-Tochter Areva, der EDF und Siemens entwickelt wurde, kommt nicht voran. Immer wieder wurde die Inbetriebnahme durch die französische Atomaufsichtsbehörde ASN verschoben. Zuletzt waren es die undichten Schweißnähte am Reaktor, die der EDF einen Strich durch die Rechnung machten. Jetzt soll Flamanville frühestens Ende 2019 mit Brennelementen bestückt werden. Eine Inbetriebnahme vor 2020 scheint also komplett unrealistisch, und ob der Reaktor überhaupt mal ans Netz gehe, so einige Kritiker, stehe in den Sternen.
Doch was viel schlimmer ist: Das Anfahren des EPR in Flamanville ist an das Runterfahren von Fessenheim im Elsass gekoppelt. Ein mieser Deal auf Kosten der Sicherheit, denn eigentlich sollte das älteste in Betrieb befindliche Atomkraftwerk Frankreichs bereits längst abgeschaltet sein. Doch die Vorfreude auf ein vorzeitiges Ende von Fessenheim – seit 1977 mit zwei 900-Megawatt-Druckwasserreaktoren in Betrieb – währte auf deutscher Rheinseite nur kurz: Schon Macrons Amtsvorgänger François Hollande hatte im Wahlkampf 2012 die Abschaltung spätestens für 2016 versprochen. Nun schwebt die Jahreszahl 2022 im Raum. Auch die 2015 angekündigte Energiewende mit der Reduzierung des Atomanteils am Strommix von 75 auf 50 Prozent bis 2025 wurde von der neuen französischen Regierung auf die lange Bank geschoben.
Neuer Reaktor nicht einsatzbereit
Vielleicht bis 2030 sei dieses Ziel zu erreichen, ist aus französischen Regierungskreisen zu hören. Genau festlegen will man sich nicht. Das würde aber bedeuten, dass von den 58 am Netz befindlichen Reaktoren mindestens 17 bis 21 Meiler stillgelegt werden müssten. Das klingt zunächst absolut unrealistisch, wenn noch nicht einmal Fessenheim in der Versenkung verschwindet. Mit Hochdruck arbeitet die EDF lieber an der Modernisierung ihres laufenden Atomparks und erhofft sich dadurch eine Laufzeitverlängerung ihrer alten Reaktoren von 40 auf bis zu 60 Jahren. Das betrifft auch das 1986 in Betrieb genommene Kernkraftwerk Cattenom, das 2026 eigentlich vom Netz gehen müsste. Im Dreiländereck Deutschland, Frankreich, Luxemburg erzeugen die vier Mal 1.300 Megawatt starken Meiler rund acht Prozent des französischen Stroms. Eine Laufzeitverlängerung um weitere zehn Jahre befindet sich in Vorbereitung. Kraftwerksleiter Thierry Rosso hält sogar 20 Jahre für technisch möglich.
Nirgendwo sonst gibt es solche Divergenzen zwischen Deutschland und Frankreich als bei der Atomenergie. Hinzu kommt, dass die französische Regierung kein allzu großes Interesse zeigt, ihrem Exportschlager Atomkraftwerk vorzeitig das Licht auch noch freiwillig auszuknipsen. Dann darf der EPR in Flamanville anscheinend so viel kosten, wie er will. Von den anfangs kalkulierten Kosten von rund drei Milliarden Euro ist man längst bei fast elf Milliarden Euro angelangt. Das erweckt den Anschein, dass dort etwas mit aller Gewalt zu Ende gebaut werden soll, um einen vorzeigbaren Exportartikel zu haben. Der erste EPR ging im Sommer 2018 in China in Betrieb, weitere Blöcke sind in Bau oder in Planung. Während in Deutschland nach dem Supergau in Fukushima 2011 das Aus der Atomkraftwerke und das schrittweise Abschalten bis 2022 unumstößlich besiegelt wurden, erweckt Frankreich eher den Eindruck, an der Atomenergie noch sehr lange festhalten zu wollen. Wenigstens bei der CO2-Bilanz können die französischen Nachbarn gegenüber Deutschland deutlich punkten. Die CO2-freie Atomstrom-Produktion wird vom Einsatz regenerativer Energien, insbesondere Wasserkraft, zunehmend ergänzt. Wenn auch die Windenergie in den vergangenen Jahren an Bedeutung gewonnen hat, so werden die Franzosen wohl noch viele Jahrzehnte auf die Kernenergie setzen. Großartige Proteste gegen Atomkraftwerke wie in Deutschland sind in Frankreich so gut wie ausgeblieben. Probleme bereiten dem hoch verschuldeten Staatskonzern EDF schon eher die noch ungelöste Endlagerfrage für Atommüll sowie die europäischen Stresstests zur Sicherheit der Atomkraftwerke. Sie wurden nach dem Supergau in Fukushima angeordnet und sichtlich verschärft. Die seit 2006 politisch unabhängige Behörde habe durchaus das Recht, bei Verstoß gegen Sicherheitsauflagen einem Atomkraftwerk sofort die Betriebsgenehmigung zu entziehen, betont der ehemalige französische Generalkonsul Frédéric Joureau. Joureau ist heute für internationale Beziehungen in der nationalen Atomaufsichtsbehörde ASN in Paris zuständig. Im Dezember 2016 habe seine Behörde das auch gezeigt und bei zwölf Reaktoren in Frankreich aufgrund von Kohlenstoffabsonderungen den sofortigen Stillstand bis zur Lösung des Problems angeordnet. In die gleiche Kategorie passe auch die nicht erteilte Betriebsgenehmigung für Flamanville aufgrund der nicht erfüllten Anforderungen an die Schweißnähte.
Kaum Proteste gegen Atomkraft
Trotz verschärfter Überprüfungen, vermehrter Stresstests zur nuklearen Sicherheit und höherer Transparenz bleibt die wohl für Deutschland wichtige Frage unbeantwortet: Wann endlich geht Fessenheim vom Netz? Und auch für die Anrainerstaaten Saarland und Luxemburg dürfte Cattenom noch lange ein sichtbarer Dorn im Auge bleiben. Die Forderungen saarländischer Politiker jeglicher Couleur nach einem vorzeitigen Ende dürften in Paris verpuffen wie eh und je. Und es gibt keine supranationale Behörde für nukleare Sicherheit in Europa, lediglich eine Kommission wie die deutsch-französische Kommission für Fragen zur atomaren Sicherheit. Das ASN-Regionalbüro Straßburg kontrolliert die Sicherheit der beiden Atomkraftwerke Fessenheim und Cattenom und unterhält über die deutsch-französische Kommission Beziehungen zu Deutschland, Luxemburg und der Schweiz. So berät zum Beispiel der Experte für Atomanlagen Thomas Seilner die saarländische Landesregierung im Hinblick auf Cattenom. Die internationale Zusammenarbeit auf diesem Gebiet hat sich zwar verbessert, aber die Verantwortlichkeiten für die Sicherheit von Atomkraftwerken bleiben wie bisher eine nationale Angelegenheit. Joureau fordert zu mehr Ehrlichkeit in der Diskussion um die Sicherheit von Atomenergie auf. „Der Dialog zwischen den Ländern muss frei von politischen Überlegungen sein." Politik und Technik würden in der Praxis nur allzu oft vermischt.
Wie frei und unabhängig letztlich die ASN in Frankreich ist, an deren Spitze eine Kommission mit fünf Mitgliedern steht – drei ernennt der jeweilige Staatspräsident, je ein Mitglied die Nationalversammlung und der Senat –, muss jeder für sich selbst beantworten.