Kaum sind die Feiertage in Frankreich vorbei, gehen die Proteste der Gelbwesten unvermindert weiter. Weil sie nicht nur von den etablierten Parteien, sondern nun auch von Emmanuel Macrons Arroganz enttäuscht sind, attackieren sie den Staat an sich. Ein Gespräch mit Christophe Arend von Macrons LREM-Partei und der Ex-Gewerkschaftssekretärin Bernadette Hilpert.
Unsere streikerprobten französischen Nachbarn sind einiges gewohnt. Dass es aber so schlimm kommen würde, damit haben selbst die kühnsten Pessimisten in der Politszene Frankreichs nicht unbedingt gerechnet. Eine Bewegung, die quasi aus dem Nichts entstanden ist, hat Präsident Emmanuel Macron sozialpolitische Zugeständnisse abgerungen – ein Teilerfolg der Gelbwesten, den „Gilets Jaunes". Das erkennen selbst die Gewerkschaften und die politische Linke an, obwohl sie selbst gar nicht Teil der Bewegung sind.
Auch wenn es bei den Gelbwesten wegen der Feiertage und des Jahreswechsels etwas ruhiger zuging, gärte der soziale Konflikt in Frankreich weiter – und entlud sich in neuen Protesten. FORUM hat bei Christophe Arend und Bernadette Hilpert nachgefragt, wie die Bewegung die politische und gesellschaftliche Landschaft derart ins Wanken bringen konnte. Arend ist als Vertreter der Macron-Partei LREM Abgeordneter der Nationalversammlung in Paris, Hilpert ist ehemalige Generalsekretärin der kommunistischen Gewerkschaft CGT in Moselle-Est.
Madame Hilpert, Monsieur Arend, wie groß ist das Risiko, dass Macron aus dem Amt gefegt wird?
Bernadette Hilpert: Es geht nicht darum, irgendjemanden aus dem Amt zu jagen. Was sollte das auch bringen? Von diesen „Gigolos", die in Paris sitzen, kommt dann nur der nächste dran. Wir wollen, dass die Armut bekämpft wird und die Gesetze entsprechend geändert werden. Es ist beschämend für ein reiches Land wie Frankreich, dass dort rund vier Millionen Menschen unterhalb der Armutsgrenze leben. Das muss sich ändern.
Christophe Arend: Das Risiko, dass Macron sein Amt verliert, sehe ich nicht. Emmanuel Macron und die Regierung sind demokratisch gewählt. Aber wir haben zugegebenermaßen eine zunehmende Kluft zwischen der nationalen Politik und der Zivilgesellschaft, und zwar nicht nur in Frankreich, sondern in vielen europäischen Ländern. Der Dialog zwischen den Bürgerinnen und Bürgern und der Politik ist leider vielerorts verloren gegangen. Diesen Mangel und die damit verbundene Unzufriedenheit nutzen rechtspopulistische Parteien aus.
Das können Sie ja ändern!
Arend: Das versuchen wir auch, aber in Frankreich ist diese Kluft zwischen Politik und Bürgern in drei bis vier Jahrzehnten entstanden. Die Regierung der LREM, also der Partei La République en Marche von Macron, ist nicht einmal zwei Jahre im Amt. Viel zu wenig Zeit, um diesen fehlenden Dialog aufzuholen und das Land konstruktiv nach vorne zu bringen. Aber wir arbeiten daran, zum Beispiel mit den Bürgerdialogen.
Hilpert: Ich sehe eher ein Problem der Demokratie. Wir haben in Frankreich ein repräsentatives System, das nicht unbedingt die Meinung des Volkes widerspiegelt. Die gewählten Abgeordneten sind oftmals viel zu weit weg von den Dingen und Problemen, die die „einfachen" Menschen beschäftigen. Die Abgeordneten stellen ihre ein, zwei oder drei Hypothesen auf, wie Probleme theoretisch gelöst werden könnten. Das hat mit der Praxis wenig zu tun und entspricht nicht unserer Philosophie.
Klingt ein wenig paradox, wenn eine Volksbewegung wie LREM durch eine andere Volksbewegung, den Gilets Jaunes, ins Wanken gebracht wird.
Arend: Jede Medaille hat bekanntlich zwei Seiten. Wir erleben gerade die Kehrseite mit den Protesten der Gilets Jaunes. Aber ich bin selbst in die Politik gegangen, weil ich der Meinung war und bin, dass die etablierte Politik sich nicht ausreichend um die Belange der Bürger gekümmert hat. Das Gefährliche daran ist, dass die Rechtspopulisten daraus Kapital schlagen wollen. Ich selbst versuche, argumentativ dagegenzuhalten, wie im Wahlkampf in Forbach gegen den Rechtspopulisten Florian Philippot. Diesen Leuten das Feld zu überlassen, ist eine Gefahr für Europa.
Hilpert: Die Gefahr, dass die Rechtspopulisten von der momentanen Situation profitieren, ist gegeben. Aber noch einmal: Die Menschen sind wütend, sie haben die Schnauze voll, denn sie sind unzufrieden mit ihrer Lebenssituation. Die Politik ist gefordert, das zu ändern. Hier gibt es auch das verbindende Element zu den Gewerkschaften, die die Situation von immer mehr Franzosen als unerträglich betrachten.
Wäre aus Ihrer Sicht eine solche Gelbwesten-Bewegung auch in Deutschland denkbar?
Arend: Was ist denn die AfD letztendlich? Wohl eine Protestpartei, ein Sammelbecken für Unzufriedene, die vor allem aufgrund der Flüchtlingspolitik von Merkel nach 2015 so stark geworden ist. Das gilt insbesondere für Ostdeutschland, wo sich viele Menschen abgehängt und von der Politik nicht verstanden fühlen, aber auch für Länder wie Baden-Württemberg, das ein reiches Bundesland ist. Frankreich, das eine große Kommunalreform plant, ist gut beraten, nach Deutschland zu schauen. Wenn Kommunen zusammengelegt, die Entfernungen für Bürger zu ihren kommunalen Ansprechpartnern zu groß werden, dann wenden sich die Bürger ab, entsteht Unzufriedenheit. So sollte man es dann nicht machen. Deutschland ist in diesem Fall ein schlechtes Vorbild. Diese Abkehr von der Politik zeigt sich auch in den sozialen Netzwerken. Die Gilets Jaunes haben etwas Verbindendes, es ist eine Art brüderlicher Bund.
Macron hat nun ein wenig nachgegeben und im Eiltempo ein Sozialpaket durch das Parlament gebracht, das Besserung verspricht. Reicht das?
Hilpert: Emmanuel Macron wird seine Politik nicht ändern. Es hört sich auf den ersten Blick alles schön an, aber im Grunde genommen profitieren nur einige wenige beispielsweise von der angekündigten Erhöhung des Mindestlohns um 100 Euro oder der Nichtbesteuerung von Überstunden. Der Mindestlohn wird ja nicht erhöht, sondern nur die Prämie. Bekommen die Betroffenen ein wenig mehr Geld, fallen die aus anderen Systemen raus. Die Ökosteuer und die Preiserhöhungen für Strom und Gas sind außerdem nur ausgesetzt und aufgeschoben. Der Staat, und damit die Steuerzahler, müssen die Zeche im Übrigen bezahlen. Es ist alles Kosmetik und ändert nichts an den grundsätzlichen Problemen.
Wie geht es weiter mit den Protesten?
Arend: Es findet derzeit eine Art Konsolidierung statt. Die Gilets Jaunes wollen eine eigene Bewegung schaffen. Politische Parteien wie die extreme Linke, La France insoumise, oder die extreme Rechte, Le Rassemblement National um Marine Le Pen, profitieren nach neuesten Umfragen übrigens nicht so sehr von der Unzufriedenheit im Land, wie sie sich vielleicht erhofft haben. Die ersten drei Monate in diesem Jahr dürften auf jeden Fall sehr spannend werden.
Hilpert: Der Protest wird weitergehen. Viele Menschen sind unzufrieden und das kann man nicht so einfach unter den Teppich kehren.
Und wie vertragen sich die Gilets Jaunes und Europa?
Arend: Die Gefahr, dass Europa aus dem Ruder läuft, sehe ich durchaus. Das Thema ist zu wichtig, als dass wir es den Populisten überlassen. Bis Ende Mai zu den Europawahlen bleibt nicht viel Zeit. Wir müssen gut argumentieren.
Hilpert: Wenn etwas schiefläuft, muss Europa oftmals als Sündenbock herhalten. Das ist natürlich nicht gut. Was wir brauchen, sind einheitliche Mindeststandards in Europa bezüglich Arbeitslosenversicherung und Sozialleistungen.