AfD in Deutschland, Fidesz in Ungarn, die PiS in Polen. Vielen rechtslastigen Politikern war Silvio Berlusconi in Italien ein Vorbild. Um den nationalistischen Ruck in der EU zu verstehen, lohnt heute ein Blick nach Osten. Osteuropa-Experte Manfred Sapper hält das Handeln der Regierungen in Ungarn, Polen und Rumänien für extrem gefährlich für den Zusammenhalt der Europäischen Union.
Herr Sapper, die EU ist seit Jahren ständig den Anfeindungen aus Warschau oder Budapest ausgesetzt. Im Baltikum bleibt es ruhig. Warum?
Die „Brüsseler Eliten" als Popanz aufzubauschen wie es die Regierungen in Ungarn, Rumänien oder Polen machen, machen die Balten nicht. Die drei Staaten wissen sehr genau, dass sie der EU und der Nato Sicherheit, Wohlstand und Stabilität zu verdanken haben. Das gilt für das ethnisch homogene Litauen ebenso wie für Lettland, in dem fast 30 Prozent der Bevölkerung ethnische Russen sind. Riga ist eines der Zentren der russischen Emigration. Viele Menschen kehren dem autoritären Russland aus politischen Gründen den Rücken. In Riga gibt es deshalb zahlreiche russische Exil-Medien. In Estland lebt eine kompakt siedelnde russische Minderheit in Narva. Nach der russischen Annexion der Krim gab es bei manchen Esten die Angst, dass Russland die russische Minderheit als Fünfte Kolonne missbrauchen könnte, aber das war grundlos.
Das heißt, das Baltikum bleibt auch weiter der Ruhepol im Osten der EU?
Manche im Westen glauben, das Baltikum sei allein wegen seiner Lage von Russland bedroht, aber das sehe ich nicht.
Die Letten aber haben momentan Schwierigkeiten, aus den vielen Kleinparteien im Parlament eine funktionierende Regierungsmehrheit zu basteln.
Das ist nichts Spezifisches. Diese Entwicklung ist in vielen Staaten zu beobachten: Nach dem Ende der kommunistischen Parteienherrschaft herrschte zunächst große Parteienverdrossenheit. Als neue Parteien gegründet wurden, funktionierten die alten Gegensätze wie der zwischen Stadt-Land oder Kapital und Arbeit, an denen sich früher Parteien herauskristallisierten, kaum mehr. Das begünstigte die Entstehung sehr kleinteiliger Parteienlandschaften. Einige Parteien knüpften an Vorläufer aus der Zwischenkriegszeit 1919–1939 an, als diese Staaten unabhängig waren. Aber es fehlte häufig an der breiten gesellschaftlichen Verankerung. Seit 30 Jahren sind eine Zersplitterung der Parteienlandschaft, schwierige Regierungsbildung und hohe Fluktuation der Regierungen zu beobachten. Das bedeutet aber nicht, dass diese politischen Systeme instabil wären.
Dann haben die östlichen EU-Staaten etwas mit Italien gemeinsam, wo es in zwischen 1949 und 2019 64 Regierungen gab.
Absolut richtig. Von 1949 bis zum Zusammenbruch des italienischen Parteiensystems Anfang der 90er-Jahre hatten immer die gleichen Personen die Fäden in der Hand. Denken Sie an Giulio Andreotti. Da gibt es eine gewisse Ähnlichkeit mit Orban in Ungarn oder den Kaczynskis in Polen. Die haben ihre Parteien im Griff und bestimmen seit Jahrzehnten die Politik mit. Diese Staaten haben uns vielleicht etwas voraus: Der Wandel der politischen Systeme ist weiter als bei uns. Denken Sie an den Niedergang der Volksparteien. Das passiert, weil sich die Gesellschaften verändern, die Milieus der Arbeiter oder der gläubigen Kirchgänger schwächer werden, sich auflösen. In Polen und Ungarn sind die Volksparteien der Kommunisten und Sozialisten verschwunden, belanglose Splitterparteien geworden. Insofern ist Ostmitteleuropa fast eine Experimentieranstalt.
Warum soll uns das angehen, was in Polen die Regierungspartei PiS und in Ungarn der Fidesz unter Viktor Orban machen?
Weil es nicht allein um Polen oder Ungarn geht, sondern um die Zukunft der EU. Die Entwicklung in Polen, Ungarn und in Rumänien ist gefährlich. Sie entscheidet mit darüber, ob die EU ein politischer Raum bleibt, in dem Rechtstaatlichkeit, Gewaltenteilung und die Prinzipen des liberalen Verfassungsstaates wie Menschenrechte und bürgerliche Freiheiten gelten oder nicht. Polen, Ungarn und Rumänien sind illiberale Staaten. Und die EU muss sich eingestehen, dass sie darauf nicht vorbereitet war.
Inwiefern?
Beitreten konnten die Staaten, wenn sie die Bedingungen der EU erfüllten, die Kopenhagener Kriterien. Sie mussten über 60.000 Seiten Vorschriften aus Wirtschaft, Politik, Verwaltung sowie Normen und Standards übernehmen. Die ostmitteleuropäischen Staaten haben das getan, sie haben bis zu ihrem EU-Beitritt 2004 eine Herkulesarbeit geleistet. Das ist und bleibt eine bewundernswerte Erfolgsgeschichte. Sie haben eine neue Wirtschaft aufgebaut, ein neues politisches System und eine neue Gesellschaft. Das sagt sich leicht, aber ist höchst kompliziert. Man braucht einen Rechtsstaat und funktionierende Politik, um die Wirtschaft in Gang zu bringen, und man braucht eine funktionierende Wirtschaft, um ein neues politisches System aufzubauen. Die Ostmitteleuropäer haben dieses „Dilemma der Gleichzeitigkeit" gelöst. Und es hat sich für sie gelohnt. Nehmen wir Polen: 1992 war Polen wirtschaftlich schwächer als die Ukraine. Heute ist Polens Bruttoinlandsprodukt um mehr als das Fünffache größer als das der Ukraine. Das spricht für sich und die EU!
Ab 1990 wollten diese Staaten „zurück nach Europa". Fast alle Politiker waren liberale Demokraten und wollten Teil der liberalen, demokratischen, rechtstaatlichen EU werden. Und heute?
Wir haben es heute mit offenen Autokraten wie Herrn Orban und illiberalen Parteien wie der PiS in Polen oder der PSD in Rumänien zu tun. Das hatte keiner erwartet. Wir sind zum zweiten Mal Opfer eines selbstauferlegten Denkverbots. Wir hatten uns nicht vorstellen können, dass ein Staat wie die Sowjetunion zusammenbricht. Deshalb haben wir darüber nicht nachgedacht. Und wir konnten es uns nicht vorstellen, dass Staaten, die der EU als liberale beitreten, plötzlich zu illiberalen Staaten werden, die die EU nun von innen fundamental angreifen. Aber so ist die Lage: Der Fidesz, die PiS und die PSD, die auf demokratischem Wege an die Macht gekommen sind, verfolgen eine antiliberale Politik. Sie haben die Gewaltenteilung ausgehebelt, sich die Verfassungsgerichte unterworfen, verstoßen gegen Grundprinzipien des liberalen Verfassungsstaates, der die Menschenrechte und die bürgerlichen Freiheiten wie Meinungs- und Pressefreiheit oder Wissenschaftsfreiheit garantiert. In Ungarn, Polen und Rumänien sind die wichtigsten Medien, vor allem das Fernsehen, zum Instrument der Regierung geworden, der Pluralismus ist eingeschränkt. Die Herrschenden legen die Axt an die Wurzeln des liberalen Verfassungsstaates.
Geben Sie uns ein Beispiel.
Das Argument der PiS in Polen lautet: Das Volk hat uns gewählt, also haben wir das Recht, uns die Richter des Landes untertan zu machen, denn der Justiz fehlt die demokratische Legitimation. Das ist eine fatale Logik. Grundlage der EU aber ist es, dass nur Staaten Mitglied sein können, die Demokratien sind und in denen Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung herrscht und wo die Menschenrechte und die bürgerlichen Freiheiten garantiert sind. Da darf man sich nichts vormachen: In Ungarn gibt es praktisch keine pluralistische Medienlandschaft mehr. Die oppositionellen Medien sind durch politische oder wirtschaftliche Schachzüge der Regierung mattgesetzt, die Regionalpresse steht unter Kontrolle von Fidesz und Freunden von Ministerpräsident Orban. In Polen legt die PiS-Regierung ein bolschewistisches Rechtsverständnis an den Tag. Eine unabhängige Justiz ist den PiS-Ideologen ein Dorn im Auge.
Warum dieser Feldzug gegen die Medien und den Rechtsstaat?
Weil der Fidesz in Ungarn und die PiS in Polen schon einmal an der Regierung waren. Damals wurden sie von den Verfassungsgerichten und den Medien in ihrem Handeln kontrolliert: Das polnische Verfassungsgericht hatte während der ersten PiS-Regierung von 2005 bis 2007 mehrere Gesetze für verfassungswidrig erklärt. Und die Medien machten damals ihren Job, den Regierenden auf die Finger zu schauen. Die „Checks and Balances" eines demokratischen Verfassungsstaates funktionierten. Seitdem klagt Kaczynski über den „politischen Impossibilismus". Er meint, dass es unmöglich sei „durchzuregieren". In Ungarn geschah Ähnliches. Als Orban 2010 wiedergewählt wurde, richteten sich seine ersten Schritte gegen das Verfassungsgericht und die unabhängige Justiz.
Und warum wurden sie gewählt?
Die Vorgängerregierungen in Ungarn und Polen hatten abgewirtschaftet, sie waren entweder korrupt oder erschöpft und angehoben und hatten sich um relevante soziale Probleme in der Gesellschaft nicht gekümmert. In Polen hat die PiS eine zielgenaue Sozialpolitik für Eltern, Rentner und Kranke aufgelegt, Kindergeld und höhere Renten versprochen. Nun an der Regierung hält sie sich auch daran.
Waren nur innenpolitische Probleme Schuld an der heutigen Macht der Nationalisten? Ist es keine Gegenbewegung zur Globalisierung?
Es gibt nicht nur einen Grund. Es ist eine Reaktion auf die gigantischen Veränderungen der vergangenen drei Jahrzehnte, auf innen- und sozialpolitische Missstände sowie auf die als Zumutung und Überforderung begriffene Globalisierung. Da scheinen die Nation und der Nationalismus Sicherheit zu versprechen. Der Nationalismus bietet ein Stabilitätsversprechen in der dynamischen globalisierten Welt. Dieses Versprechen geben alle Populisten, Matteo Salvini von der Lega in Italien, Heinz-Christian Strache in Österreich, Orban in Ungarn, Kaczynski in Polen: Sie behaupten, sie repräsentierten die „gute Nation", die sich gegen die „böse kosmopolitische Elite" in Brüssel oder wo auch immer erhebt. Dabei gehören sie selbst zu den Eliten. Allerdings sollten wir immer daran denken, dass es nicht die Polen oder die Ungarn sind, die illiberal oder autoritär sind. Im Gegenteil: Insbesondere die polnische Gesellschaft ist sehr polarisiert und tief gespalten.
Welche Rolle spielen Österreich und Italien?
Österreich hat eine paradoxe Bedeutung. Als die FPÖ unter Jörg Haider an die Regierung kam, reagierte die EU mit Sanktionen gegen Österreich. Das war falsch, denn anders als heute in Polen und Ungarn hatte die österreichische Regierung nicht gegen das EU-Recht verstoßen. Seitdem war die Bereitschaft der Europäischen Kommission und des Europäischen Rates begrenzt, Verstöße eines Mitgliedsstaates gegen die Grundlagen der EU zu sanktionieren. Die laufenden Rechtsstaatsverfahren gegen Polen und Ungarn sind nun Neuland. Italien hat eine wichtige Bedeutung. Silvio Berlusconi lieferte das Rollenmodell für Politiker wie Orban. Berlusconi vermischte Geschäft und Politik, nutzte seine eigenen und die öffentlich-rechtlichen Medien zu politischen Zwecken, agierte antipluralistisch und sprach mit seinem Verhalten rechtsstaatlichen Prinzipien Hohn. Viktor Orban ist sein gelehriger Schüler. Er setzt perfekt auf Zynismus als Mittel der politischen Mobilisierung und spricht mit gespaltener Zunge. Im Europarlament stellt er sich der Kritik an seiner Regierung, tritt konziliant auf und verspricht Korrekturen. Doch diese bleiben Makulatur. In Ungarn verfolgt er einen anderen Kurs: Dort klagt er „Wir sind Opfer der fremden Eliten und Bürokraten, werden kolonialisiert, und Brüssel ist das Moskau von heute." Die immensen finanziellen Transfers aus Brüssel nimmt Herr Orban jedoch gern.
Das heißt, die Orbans und Kaczynskis sind nicht per se antieuropäisch?
Nein, sie verstehen sich als Repräsentanten eines Europas der Nationalstaaten. Als das britische Referendum pro Brexit ausging, gab es die Befürchtung, das würde einen Dominoeffekt auslösen. Natürlich nicht. Es gibt keinen Polexit oder Ungarexit. Die Herren wissen, dass sie das Geld aus den diversen EU-Fonds brauchen. Aber weil das so ist, müssen sie sich auch an die Regeln halten. Die Zahlung von Mitteln aus diesen Fonds muss stärker an die Einhaltung von Bedingungen geknüpft werden. Nur wer sich an die rechtlichen Grundlagen hält, hat auch Anspruch auf die Förderung durch die EU. Es kann nicht sein, dass ein politisches Denken, das auf die Zerstörung der Rechtsstaatlichkeit, der Gewaltenteilung und des liberalen Verfassungsstaat gerichtet ist, honoriert wird. Daher: Geld nur gegen Bedingungen! Stellen wir uns eine analoge Situation aus der Bundesrepublik vor: Eine Landesregierung diffamiert Berlin als Kolonisator, verletzt systematisch das Grundgesetz und verlangt politisch aber die Mittel aus Länderfinanzausgleich profitieren. Undenkbar.
Die Europawahl geht uns deshalb alle an, weil etwa der Fidesz im Europaparlament derselben Fraktion angehört wie die CDU/CSU: der Europäischen Volkspartei (EVP). Und die deutschen Sozialdemokraten sitzen Seit an Seit mit der sozialistischen Regierungspartei aus Rumänien. Zu lange haben deutsche Politiker aus fraktions- und machtpolitischem Kalkül zu den Vorgängen in Ungarn oder Rumänien geschwiegen. Damit schaden sie der eigenen Glaubwürdigkeit und der EU insgesamt. Diese falsche Rücksichtnahme sollte der Vergangenheit angehören.