Neapel ist für viele Touristen nur eine Zwischenstation, an der man ankommt und dann schnell weiterfährt an das eigentliche Reiseziel am Golf von Neapel. Das ist eigentlich schade, denn so verpassen sie eine der aufregendsten Städte des Landes.
Die Hose ist ein wenig zu kurz geraten, so wie man das damals eben trug, das hellblaue Hemd spannt über den Bauchansatz. So lieben die Menschen in Neapel ihn bis heute, ihren Diego Armando Maradona. 1987 und 1990 hatte der Argentinier den örtlichen Fußballclub SSC Neapel jeweils zur Meisterschaft geführt, 1989 gar zum Gewinn des Europapokals – bis heute die größten Erfolge der Vereinsgeschichte der „Azzurri". Seitdem verehren sie ihn hier wie einen Heiligen. Man kann Maradona bei einem Rundgang durch die Stadt auch gar nicht aus dem Weg gehen. In den Gassen der Altstadt stößt man an jeder Ecke auf Huldigungen an den „kleinen Magier" – von Aufstellern über kleine Votivaltäre bis hin zum überlebensgroßen Porträt an den Wänden der sogenannten Maradona-Häuser im Stadtteil Secondigliano.
Zwar wurde die Monarchie in Italien offiziell 1946 abgeschafft, doch Diego Maradona ist immer noch der König von Neapel. Einen passenderen Herrscher hätte sich die Stadt gar nicht aussuchen können. Maradona, der Antiheld, der schon in seiner aktiven Zeit immer ein wenig zwielichtig gewesen war – und Neapel, jener als chaotisch verschriene Moloch am Fuße des Vulkans Vesuv. Ein Hort der Kriminalität, Lärm und Dreck, das zumindest war bis in die 1990er-Jahre noch die gängige Meinung über Italiens drittgrößte Metropole. In den vergangenen Jahren hat sich jedoch einiges getan.
Schlechtes Image aufpoliert
Als Symbol für die positive Entwicklung in jüngster Zeit steht die Piazza del Plebiscito. Einst befand sich hier wenig einladend ein Großparkplatz. Inzwischen aber ist der Autoverkehr verbannt und der Platz wieder zum repräsentativen Mittelpunkt des städtischen Lebens geworden, auf dem Konzerte und andere Veranstaltungen stattfinden und Brautpaare ihr junges Glück zur Schau tragen.
Der Platz wird beherrscht vom Palazzo Reale auf der einen Seite, dem ehemaligen Königspalast, sowie weitläufigen Kolonnaden und der Kirche San Francesca di Paola auf der anderen. Ein wenig erinnert die Szenerie an den Petersplatz in Rom. Nicht weit entfernt, in der Galleria Umberto I., wähnt man sich dagegen auf einmal in Mailand. Die Einkaufspassage mit ihrer monumentalen Glas- und Stahlkonstruktion wurde im späten 19. Jahrhundert nach norditalienischem Vorbild errichtet.
Von hier aus ist es nur noch ein Katzensprung bis in die Altstadt (Centro storico), die von der Unesco 1995 als Ganzes zum Weltkulturerbe erklärt wurde. Einmal quer hindurch verläuft die zentrale Altstadtachse Spaccanapoli, der „Neapel-Spalter", die das historische Zentrum förmlich in zwei Hälften zerteilt. Besonders gut lässt sich deren Verlauf vom Hügel des Stadtteils Vomero aus erkennen. Früher waren steile Treppen der einzige Weg hinauf, doch dank mehrerer Schienenseilbahnen (Funicolare) muss heute niemand mehr ins Schwitzen kommen. Am höchsten Punkt des Vomero, thront das mittelalterliche Castel Sant`Elmo, von dessen Mauern sich eine herrliche Aussicht über die Stadt bietet, bis hinüber zum Vesuv und auf die andere Seite des Golfes von Neapel. Mit dem Castel Nuovo direkt am Hafen mit seinem marmornen Eingangsportal zwischen zwei mächtigen Rundtürmen und dem auf einer kleinen Felseninsel gelegenen Castel dell’Ovo verfügt die Hauptstadt Kampaniens noch über zwei weitere Festungsanlagen, die unbedingt einen Besuch wert sind.
Zurück in die Altstadt geht es weiter mit dem Funicolare. Nach dem Abstecher an den höchsten Punkt der Stadt führt unser Weg dort als Nächstes in die Unterwelt Neapels, also quasi von ganz oben nach ganz unten. Tief unter den Gassen des Centro storico erstreckt sich ein etwa 80 Kilometer langes Labyrinth aus Höhlen, Zisternen und Brunnen, eine ganze „Stadt unter der Stadt". Wer zum Beispiel neben der Kirche San Lorenzo Maggiore die Treppen hinabsteigt, fühlt sich bereits nach wenigen Schritten in die Zeit der Griechen und Römer zurückversetzt. Ein weiterer Einstieg befindet sich an der nahegelegenen Basilica di San Paolo Maggiore, wo die Kulturinitiative Napoli Sotterranea auch Führungen durch den historischen Untergrund anbietet. Aber Achtung: Einige Passagen sind eher nicht geeignet für stärker beleibte Menschen und solche, die unter Klaustrophobie leiden.
Führungen durch den "Untergrund"
Eine etwas bequemere Form der Zeitreise ist ein Besuch im Museo Archaelogico Nazionale, wobei auch für eines der weltweit größten Museen für antike Kunst zumindest ein wenig Ausdauer nicht schaden kann. Man sollte sich schon Zeit nehmen, um die einzigartige archäologische Sammlung zu erkunden, die eine perfekte Ergänzung zu einem Besuch der antiken Stätten in Pompeji oder Herculaneum darstellt. Vieles von dem, was dort beim Ausbruch des Vesuv im Jahr 79 n. Chr. unter der Vulkanasche konserviert wurde, ist heute nämlich im Archäologischen Museum in Neapel zu bewundern. Darunter Statuen wie der imposante Farnesinische Stier, Helme und Waffen von Gladiatoren sowie das berühmte Bodenmosaik Alexanders des Großen. Im Gabinetto Segretto, dem Geheimkabinett, ist zudem eine Sammlung – zum Teil recht drastischer – erotischer Darstellungen zu besichtigen, die ebenfalls bei den Ausgrabungen in Pompeji ans Tageslicht gekommen waren. Zwei Jahrhunderte lang wurde sie weitgehend unter Verschluss gehalten, nur wenige Personen „reifen Alters und verbürgter Moral" bekamen die Geheimkollektion zu Gesicht. Erst seit dem Jahr 2000 steht sie wieder allen Besuchern offen, sofern sie denn älter als elf Jahre sind und sich am Eingang für eine der halbstündlich stattfindenden Führungen eingetragen haben.
Fußball und Religion vereint
Abbitte muss nach einem Besuch im Gabinetto Segretto heutzutage zwar niemand mehr leisten, doch eine Besichtigung des Duomo, der Kathedrale von Neapel, ist dennoch jedem anzuraten. Hier werden die Reliquien des städtischen Schutzpatrons San Gennaro aufbewahrt – vielleicht der einzige, den die Neapolitaner noch mehr bewundern als Maradona. Der Altar birgt zwei Ampullen mit dem Blut des Heiligen, und jedes Jahr im Mai und im September strömen die Gläubigen in Scharen herbei, um dem Wunder der Blutverflüssigung beizuwohnen. Bleibt es aus, bedeutet das Unglück für die Stadt. So geschehen etwa im Mai 1988, was dazu führte, dass der SSC Neapel die sicher geglaubte Meisterschaft noch verspielte. Zu sagen, dass Fußball und Religion in dieser Stadt eng verwurzelt sind, wäre wahrscheinlich noch untertrieben: Fußball ist Religion – das wird auch in der Via San Gregorio Armeno mehr als deutlich. In der sogenannten Krippengasse ganz in der Nähe des Doms betreiben die berühmten Krippenmacher Neapels ihre Werkstätten. Das filigrane Handwerk hat in der Stadt eine lange Tradition, wobei heutzutage längst nicht mehr nur biblische Motive zu erstehen sind. Die Vielfalt der abgebildeten Figuren reicht vom Papst bis Bud Spencer, von Cristiano Ronaldo bis Donald Trump. Doch eine Figur schlägt sie alle: Am beliebtesten ist immer noch Diego Armando Maradona.