Vollchaos, Schlag Mitternacht am Tag des Brexits: Das sei programmiert, sagt Zoll-Fachfrau Iris Porzig-Erny. Zollämter, Zöllner, Regelwerke? Fehlanzeige. Schon jetzt gibt es Engpässe auf der Insel – vom Problem mit den Kabelbindern mal ganz abgesehen.
Der 29. März 2019 rückt immer näher: Es ist der Tag, an dem Großbritannien als erstes Land überhaupt aus der EU wieder austreten wird. Doch wie das genaue Austrittsszenario aussehen wird, ist nach wie vor völlig unklar. Harter Brexit, weicher Brexit, Übergangs-Brexit? „Eins jedenfalls ist klar", meint Zollexpertin Iris Porzig-Erny. „Auf die Zollbeamten an den Grenzen zu Großbritannien, zum Beispiel in Dover, kommen die schlimmsten Zeiten ihres Berufslebens zu."
Noch ist das Datum ein paar Wochen hin, es ist Montagmorgen, zeitige 6 Uhr – das rostige Thermometer an der Hauswand steht auf fünf Grad minus. Trotzdem steigt Iris Porzig-Erny fröhlich aus ihrem Auto und läuft die paar Schritte zu ihrem Büro im kleinen Örtchen Bietingen an der Grenze zur Schweiz bei Schaffhausen. Die 38-Jährige leitet die Zollagentur Zollas: 20 Mitarbeiter kümmern sich hier im Auftrag von Unternehmen um die Verzollung von Handelswaren, die zwischen der Schweiz und der EU hin- und herfließen. „Ausfuhren, Einfuhranmeldungen, Ursprungszeugnisse, das ist unser Arbeitsalltag", erzählt Porzig-Erny. „Und genau das ist das, was uns auch an den EU-Grenzen zu Großbritannien demnächst beschäftigen wird." Das Problem: „Wenn ich an den Brexit denke, bekomme ich schlechte Laune. Alle sind nullkommanull vorbereitet – meinen Beruf gibt es ja streng genommen in der EU gar nicht mehr. Und auch den Briten fehlt es deshalb nahezu vollständig an entsprechender zolltechnischer Infrastruktur und am Personal."
Das Problem mit dem Brexit und was das für Unternehmen bedeutet, sagt Porzig-Erny, sei sehr komplex. „Da kann man ganz, ganz schnell den Überblick verlieren", so ihre Erfahrung. Besonders gravierend: „Während all der Debatten zum Thema hat niemand daran gedacht, dass es so etwas wie Grenzzollämter, Zollbeamte und Zollspezialisten in ihrer Ursprungsform nicht mehr gibt." Entsprechende Gebäude stünden schon seit Jahren leer, nahezu alle Berufsgattungen in diesem Bereich seien so gut wie ausgestorben. „Auch Spezialisten in den Firmen gibt es so gut wie keine mehr", weiß die Zollspezialistin. Das trifft auch den künftigen Warenverkehr mit Großbritannien. „Da weiß niemand mehr, was überhaupt zu tun ist. Die Staus an den Grenzen werden kilometerlang." Vor allem im Falle eines harten, also ungeregelten Brexits wären die Leidtragenden wohl vor allem die britischen Verbraucher. Salat, Tomaten und Gurken könnten sehr schnell aus den Supermarktregalen verschwinden. Supermarktketten hätten bereits jetzt alle Kühlhäuser auf der Insel mit Waren aus der EU zugestellt, Verbraucher tätigten Hamsterkäufe.
Bleiben wir in Deutschland. Was bedeutet der Brexit etwa für ein deutsches Unternehmen, das Laptops nach Großbritannien liefern will? „Ein ganz schwieriges Thema", sagt Iris Porzig-Erny. „Liegt der Warenwert des einzelnen Laptops über 1.000 Euro, muss zunächst eine elektronische Ausfuhrgenehmigung beantragt werden. Das kann man mit eigens dafür entwickelter Software wie zum Beispiel dem Programm Atlas machen." Bloß: Atlas kennt Großbritannien noch nicht als Drittstaat, der nicht zur EU gehört. Und: Fällt denn der Laptop unter die Gruppe der Güter, die überhaupt ausgeführt werden dürfen? Für solche Güter gibt es eigens Listen – wichtige Listen, die Großbritannien aber bislang nicht vorgelegt hat. Bleibt zu hoffen, dass das noch rechtzeitig kommt.
Dennoch tun sich noch weitere Problemfelder auf, eine ganze Reihe von ihnen drehen sich ums liebe Geld. Porzig-Erny: „Unternehmen, die keinen eigenen Zollspezialisten haben, brauchen externe Spezialisten und einen entsprechenden Vorlauf zur Verladung. Das kostet Zeit und Geld. Auch die Preise der Speditionen für Lieferungen nach Großbritannien dürften steigen, da Wartezeiten für die Grenzabfertigung einkalkuliert werden müssen." Hinzu kämen noch die Einfuhrzölle, die in Großbritannien fällig werden. Oder natürlich auch für Waren aus Großbritannien in der EU. „Wie hoch die Zölle genau werden, weiß bislang niemand."
Es gibt in Calais inzwischen so gut wie keine Zöllner mehr
Ganz zu schweigen vom großen Themenfeld Sicherheit: Bei einigen Waren könnte das die Lage zusätzlich verkomplizieren. „Die EU hat in den letzten Jahren, als Reaktion auf die Anschläge vom 11. September 2001, diverse Ausfuhrbeschränkungen erlassen. Zum Beispiel auch für Kabelbinder." Kabelbinder?! Ja, die könne man laut EU nicht nur für mehr Ordnung auf dem Schreibtisch einsetzen, sondern auch, um Menschen zu foltern. „Damit reicht selbst eine ordentliche elektronische Ausfuhranmeldung beim Zoll nicht aus", erklärt die Zollexpertin und rauft sich die Haare. „Dann muss man nämlich unter Umständen eine Ausfuhrgenehmigung beantragen. Und auch der Empfänger der Kabelbinder muss überprüft werden, damit sichergestellt ist, dass die Ware nicht etwa als Folterwerkzeug verwendet wird. Jede Ware unterliegt einer zolltechnischen Risikoanalyse."
Schon heute sind einige der drohenden Probleme deutlich zu spüren: Etwa 80 Arzneimittel sind in England bereits derart rar, dass sie die Regierung auf einer „Engpass-Liste" führt. Wie ein Sprecher der britischen Botschaft in Berlin bestätigt, werden auf der Liste selbst häufig verschriebene Präparate geführt –
neben Anti-Depressiva auch Antibiotika oder Schmerzmittel. Ähnliche Probleme werden aus Nordirland, Wales und Schottland gemeldet. Umstritten ist, wie es zu der Knappheit kommt. Während der Botschafts-Sprecher auf Schwankungen auf dem Weltmarkt verweist, glauben Kritiker an eine andere Theorie: Die Medikamente könnten von Unternehmen aufgekauft worden sein, die auf „Geschäfte durch den Brexit spekulieren", sagt Martin Sawer, Sprecher der britischen Health Care Association gegenüber dem „Spiegel".
Während sich die Probleme im Warenverkehr zwischen der EU und Großbritannien schon häufen, versuchten sich die Briten vor einigen Wochen gegen einen harten Brexit abzusichern. Die Regierung buchte zusätzliche Fährfahrten im Wert von über 120 Millionen Euro. „Aus rein zolltechnischer Sicht ziemlich fragwürdig", meint Iris Porzig-Erny. „Ab dem 29. März muss ja jede Ware, die die EU Richtung Großbritannien verlässt, ausfuhrverzollt werden." Genau das sei aber praktisch unmöglich. „Zöllner gibt es an den Außengrenzen, zum Beispiel in Calais, so gut wie keine mehr. Wie sollen da die ganzen Formalien erledigt werden?" Damit überhaupt Fähren mit Waren die EU verlassen könnten, müsste die EU doch „alle Augen zudrücken". Genau wie die Briten auf der anderen Seite des Kanals, weil Ein- und Ausfuhrzölle in beiden Richtungen fällig würden.
Was das alles in der Praxis bedeute, sehe sie jeden Tag in ihrem Büro direkt an der deutsch-schweizerischen Grenze, erzählt die Fachfrau. „Nicht in der EU zu sein und trotzdem am internationalen Handel teilnehmen zu wollen, das ist für die Schweiz ja Normalzustand."
Die Folge: Jeden Morgen drängeln sich an den größeren Grenzübergängen von Basel bis Lindau die Lkw-Karawanen durch die anliegenden Dörfer und Städte. „Zollwissen und Infrastruktur sind hier zwar theoretisch vorhanden, aber trotzdem stecken Lkw wegen fehlender Zollpapiere zum Teil stunden- oder gar tagelang fest." Anwohner seien genervt, Behörden reagierten auf beiden Seiten der Grenzen mit Fahrverboten. „Da kann man sich ausmalen, was an den Grenzen zu Großbritannien passieren wird. Ich sage nur: Vollchaos. Das ist programmiert."
Glaubt man Iris Porzig-Erny, wird der Brexit, egal ob „weich", „hart" oder „irgendwie dazwischen", auf jeden Fall dafür sorgen, dass die zum Teil minutengenau getakteten Lieferketten innerhalb der „alten" EU empfindlich gestört werden. „Und das kann dauern", versichert die 38-Jährige. Wie lange? „Der ganze Wirbel rund um den EU-Austritt wird sich vielleicht erst in fünf Jahren wieder beruhigen." Dann dürften aus den Provisorien an den Grenzen wieder richtige Gebäude geworden sein – und Zollkontrollen sind vielleicht zur Normalität geworden.