Das Berliner Ensemble knüpft mit seinem Intendanten Oliver Reese an alte Traditionen an – und zeigt vermehrt Stücke lebender Autoren.
Das Denken gehört zu den größten Vergnügungen der menschlichen Rasse." Diese Worte von Bertolt Brecht stehen leuchtend gelb über dem Spielplan 2018/19, der draußen am Berliner Ensemble hinter Glas hängt. Dass dieses Haus, kurz BE genannt, Tradition hat, ist schon von Weitem zu sehen.
Als Theater am Schiffbauerdamm, geplant von Architekt Heinrich Seeling, wurde es 1892 mit Goethes „Iphigenie auf Tauris" eröffnet. Der große Regisseur Max Reinhardt hatte dort unter anderem das Sagen, später war es sowohl ein Uraufführungs- als auch Unterhaltungstheater.
Unter Bertolt Brecht und seiner Frau Helene Weigel, die schon 1949 – nach der Rückkehr aus den USA – ein „Berliner Ensemble" gegründet hatten und 1954 in das Haus einzogen, wurde alles anders. Bis 1961 hat Helene Weigel als Mutter Courage 405 Mal den schweren Wagen über die Bühne gezogen. Später haben Peter Zadek und Heiner Müller das Berliner Ensemble geprägt. Nach zuletzt 18 Jahren unter Claus Peymann hat Oliver Reese seit der Spielzeit 2017/18 hier den Hut auf.
„Dieses Angebot hat mich erst überrascht und dann auch erfreut", sagte der 54-Jährige. Rein zufällig kam das jedoch nicht. Nach zuvor sieben Jahren als Chefdramaturg am Maxim Gorki Theater Berlin, danach sieben Jahre als Chefdramaturg und stellvertretender Intendant unter Bernd Wilms am Deutschen Theater Berlin, wo er 2008/09 die Intendanz interimistisch übernahm, ist er stadtbekannt und seine Leistung unvergessen. Auch wusste man, dass Reese in den acht Jahren zuvor das leergespielte Schauspiel Frankfurt zu neuem Leben erweckt hat. Ihm traute man zu, das traditionsreiche Berliner Ensemble in eine gute Zukunft zu führen.
Mit gleich drei Inszenierungen an drei Tagen in Folge ist er im September 2017 durchgestartet: Mit Albert Camus‘ „Caligula" in der Regie von Antú Romero Nunes, mit Arne Lygres „Nichts von mir", inszeniert von Mateja Koleznik, und – eigentlich selbstverständlich an diesem Haus – mit Brechts „Der kaukasische Kreidekreis" in der Regie von Michael Thalheimer.
Dass Letzterer nun auf Dauer am BE arbeitet, war und ist ein weiterer Coup. „Thalheimer hat hier eine neue Heimat gefunden und Frank Castorf ebenso", sagt Reese. „Wir verstehen uns gut. Und Stefanie Reinsperger aus Wien, die im ‚kaukasischen Kreidekreis‘ die Hauptrolle spielt, hat einen Fünf-Jahres-Vertrag."
In der ersten Spielzeit 2017/18 hat der Theaterchef selbst das neue Stück „Panikherz" nach Benjamin von Stuckrad-Barres Autobiografie auf die Bretter gebracht, und das schlägt kräftig und ohne Flimmern. „Alle bisherigen 35 Aufführungen waren ausverkauft", betont Reese nicht ohne Stolz. Die beiden weiteren Erfolgsstücke sind nach wie vor der „Kaukasische Kreidekreis" und „Endstation Sehnsucht", beide in der Regie von Michael Thalheimer. Insgesamt liegt die Auslastung bei über 80 Prozent. Ein Ergebnis, das sich sehen lassen kann.
In rauer Gegenwart angekommen
In der laufenden Spielzeit überraschte das BE mit etwas ganz Neuem. Gemeint ist – die Digitalisierung macht’s möglich – „Die Parallelwelt" in der Regie von Kay Voges, eine Simultanaufführung zwischen dem Berliner Ensemble und dem Schauspiel Dortmund im Großen Haus. Dort stehen auch „Eine griechische Trilogie" von Simon Stone, „Die Verdammten" nach dem Film von Luchino Visconti und „Macbeth" von Heiner Müller nach Shakespeare auf dem Spielplan.
Das Kleine Haus mit 200 Plätzen bietet hingegen den passenden Raum für das „etwas andere Format" – für Reeses eigene Inszenierung „Wheeler" beispielsweise, von Tracy Letts. Ebenso für das Projekt über Obdachlosigkeit in Berlin, „Auf der Straße" von Karen Breece. Auch der schauspielerische Nachwuchs kommt hier zum Zug – Studentinnen und Studenten der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch mit ihrer Inszenierung „Die Antigone des Sophokles" – auf der Basis des antiken Textes, bearbeitet von Bertolt Brecht. Diese Zusammenarbeit mit der Hochschule will Oliver Reese fortsetzen.
Weitere Produktionen im Kleinen Haus: „heiner 1 – 4 (engel fliegend, abgelauscht)" von Fritz Kater über den Dichter Heiner Müller und „Kriegsbeute" von Burhan Qurbani und Martin Behnke –
darin geht es um eine Waffenhändler-Dynastie. Ende April wird dann „Amir" aufgeführt, ein Stück von Mario Salazar, einem Berliner Dramatiker mit chilenischen Wurzeln. Er erzählt die Geschichte von drei palästinensischen Brüdern, die nach Berlin geflohen sind und zwischen krummen Geschäften mit arabischen Clans, Behördenwillkür und Leben am Existenzminimum irgendwie versuchen, in der neuen Heimat anzukommen.
Damit ist das BE dann voll in der rauen Gegenwart angekommen. Auf diese Weise löst Reese auch sein anfängliches Versprechen ein, verstärkt „Autorentheater" zu bieten, also Stücke von lebenden Schriftstellern. Was durchaus nicht einfach sei, denn es gehe schneller, ein Stück zu inszenieren, als ein neues zu schreiben. Das weiß Reese aus eigener Erfahrung.
Neben der Entwicklung eines vielstimmigen Spielplans mit unterschiedlichen Formaten geht es für den Theaterchef natürlich auch um die Finanzierung geplanter (Um-)bauvorhaben. Denn das Berliner Ensemble soll eine zweite, modern ausgestattete Spielstätte mit 200 Plätzen bekommen. Das sei längst überfällig und heutzutage selbstverständlich, so Reese. Dazu wird das große grüne Haus neben dem Hauptgebäude entsprechend umgebaut. Eine weitere notwendige Investition nach der Schaffung einer Probebühne sowie der Sanierung der Kantine und der Toiletten. Zudem bemüht sich Intendant Reese um eine finanzielle Besserstellung des Hauses, das im Vergleich zu anderen Berliner Theatern ähnlicher Größe deutlich weniger Geld vom Berliner Senat bekommt.
Bleibt da überhaupt noch Zeit für eigene Theaterbesuche, die Reese sehr liebt? Schon als Junge in Paderborn war er sozusagen im Theater daheim. „Ich gehe nach wie vor sehr gerne ins Theater", betont er, und sieht sich mit großem Interesse an, was die anderen machen. Aber nicht bei den Premieren. Lieber besucht er die dritte Vorstellung, wenn sich alles gut eingespielt hat.
Laufend Platz für neue Ideen
Und wie steht es um weitere eigene Inszenierungen? Eine in jeder Spielzeit soll es auf alle Fälle sein, doch Genaueres ist momentan aus Reese nicht herauszubekommen. Es gehe ihm bei dieser Arbeit auch um den persönlichen Kontakt mit den Schauspielerinnen und Schauspielern. Längst sind bundesweit Theaterchefs auf das neue Berliner Ensemble und dessen Erfolgsproduktionen aufmerksam geworden – und so gibt es bereits diverse Einladungen. Unter anderem zu den Ruhrfestspielen, nach Russland, Italien und Ungarn. Doch bei aller Freude über das Interesse in Deutschland und im europäischen Ausland, konzentriere man sich erst einmal auf den Theaterbetrieb in Berlin. Man wolle ohne zusätzliche Hektik arbeiten und sich weiter entwickeln, heißt es. Theaterchef Reese übrigens ist ein passionierter Läufer, drei Mal pro Woche ist er eine Stunde unterwegs. Ohne „Musik im Ohr", eher meditativ, um sich den Kopf frei zu machen – und um Platz für neue Ideen zu schaffen. Zettel und Stift hat er also auch beim Joggen in der Tasche – so kann kein spontaner Einfall – für neue Regiearbeiten etwa – verlorengehen.