Luxemburg will seinen Nahverkehr ab 2020 komplett kostenlos anbieten. Verkehrsminister François Bausch über das Umdenken im kleinsten Flächenland der Europäischen Union.
Herr Bausch, wann haben Sie das letzte Mal den ÖPNV benutzt?
Vor drei Tagen, letzten Freitag. Von zu Hause bis zum Ministerium brauche ich genau acht Minuten. Ich wohne in Luxemburg-Stadt, bis zum Ministerium habe ich ein paar Kilometer. Das mache ich normalerweise mit dem Fahrrad oder mit der Tram. Die nächste Haltestelle ist gerade einmal 350 Meter von meinem Haus entfernt. In der Stadt selbst bewege ich mich fast nie mit dem Auto, nur wenn ich Termine außerhalb der Stadt habe. Mein Fahrer ist ziemlich arbeitslos. (lacht)
Als Minister für Mobilität und öffentliche Arbeiten arbeiten Sie federführend an der Umsetzung eines neuen Verkehrskonzepts in Luxemburg.
Von 2005 bis 2013 war ich Erster Beigeordneter des Bürgermeisters der Stadt Luxemburg. Zielsetzung war, dass Luxemburg von einer Autostadt zu einer menschengerechten Stadt wird. Wir wollten die ganze Mobilitätskette vom Fußgänger bis zum Fahrrad und dem öffentlichen Verkehr entwickeln. E-Bikes sind auf den ersten 15 bis 20 Kilometern unschlagbar, man kann fahren, ohne sich anzustrengen. Deshalb ist die Infrastruktur für Fahrräder unheimlich wichtig. Sei es als normales Verkehrsmittel oder als Zubringer.
Als ich das Glück hatte, dieses Ministerium zu übernehmen, konnte ich das Projekt im Zentrum, aber auch in Ballungsgebieten fortsetzen, wo die meisten Einwohner und Arbeitsplätze zu finden sind. Noch in den 2000er Jahren waren wir Luxemburger komplett auf das Auto fixiert. Heute beweisen wir, wie man von einer autozentrierten Situation hin zu einer multimodalen Einstellung kommen kann. Das hätte sich vor zehn Jahren keiner vorgestellt. Ich war aber immer überzeugt, dass es geht.
Luxemburg hat aber pro Kopf immer noch die höchste Autodichte.
Das stimmt. Ich stelle aber fest, dass das Konzept Modul 2.0, das wir vor der Sommerpause vorgestellt haben, bei der Bevölkerung gut ankommt. Im Januar 2014 haben wir mit Umfragen begonnen, um die Akzeptanz eines solchen Projekts zu testen. 38 Prozent waren dafür, 37 Prozent dagegen, der Rest hatte keine Meinung. Heute sind wir bei 87 Prozent Befürwortern. Man muss einen gewissen politischen Mut mitbringen und Durststrecken durchstehen. Zum Beginn meiner Legislaturperiode war ich nicht unbedingt der beliebteste Minister. Angesichts der Resultate hat sich das sehr gedreht. Aber natürlich war es nicht einfach. Man muss immer wieder zur Bevölkerung gehen und sich in Sälen voll skeptischer Bürger jeder noch so kontroversen Diskussion stellen.
Sind die Erfolge sichtbar?
Jetzt sind wir an einem Punkt angekommen, wo wir sagen können: Wenn wir das weitere fünf Jahre lang noch konsequent durchziehen, werden wir Luxemburg auf positive Weise nicht wiedererkennen. Die Urbanität wird sich verändern, die Mentalität auch, die Bevölkerung bekommt wieder Lust auf andere Verkehrsmittel, sie versteht die Zusammenhänge. Wir haben nicht nur die Tram gebaut: Die 16,4 Kilometer der ersten Strecke gehen vom Flughafen durch die Stadt bis zum Südwesten der Stadt. Das sind zehn Umschlagbahnhöfe. An jedem gibt es Verbindungen zu anderen Verkehrsmitteln, vom Fußgängerverkehr bis zum Auto. Leute von außerhalb können ihr Fahrrad abstellen oder mitnehmen, um weiterzufahren. An den Umschlagbahnhöfen gibt es auch kleine Cafeterias.
Die Einbindung macht‘s also?
Mobilität sehen wir nicht nur als einziges Verkehrsmittel, sondern kombiniert mit allen Verkehrsmitteln und Serviceleistungen. Mobilität muss man in einem Gesamtkonzept denken. Es macht keinen Sinn, einfach nur eine weitere Straßenbahn zu bauen. Man muss kombinieren und vor allem auf die Qualität achten, die man bietet. Für die Straßenbahn wurde alles durchdacht, wir haben einen richtigen Hype geschaffen. Die Einweihung war ein riesiger Erfolg, wir haben in drei Wochen eine halbe Million Personen transportiert. Die Tram war die größte Attraktion der Schobermesse, unserer traditionellen Kirmes. Was das Fahrradfahren angeht, lautet das wichtigste Argument: Fahrradfahren soll Spaß machen. Es geht nicht nur um die Umwelt. Der Umweltaspekt ist wie ein Bonus, den man oben draufsetzt.
Fühlen Sie sich beim Fahrradfahren eigentlich sicher?
Ja, trotz der Lücken im System. Es ist noch stark verbesserungsbedürftig, geht aber Schritt für Schritt voran. Mit der Tram bauen wir auch eine separate, abgesicherte Fahrradspur auf dem Kirchberg, die wir bis zum Bahnhof weiterziehen wollen. Wenn Sie die 3D-Bilder anschauen, wie die Avenue de la Liberté und der Bahnhofsplatz heute aussehen und wie das Ganze in zwei Jahren aussehen wird: verblüffend! Dann werden wir ein völlig anderes urbanes Gefühl bekommen. Deshalb ist eine Tram nicht allein ein Verkehrsmittel, sondern ein Mittel, um die Stadt zu verschönern, lebenswerter zu machen. Es ist die Gelegenheit, alle öffentlichen Plätze komplett zu gestalten.
Wie kann man den Teufelskreis – schlechtes Angebot, weniger Nutzer, geringe Einnahmen, noch schlechteres Angebot – durchbrechen? Kann Luxemburg für die Nachbarstädte ein Mutmacher sein?
Wenn man die ganze Verkehrskette mit Urbanität und Lebensqualität berücksichtigt, muss zuerst das Konzept stehen. Nur so kann es bei der Bevölkerung wirken. Viele Elemente kosten praktisch nichts. Fahrradwege anzulegen ist das billigste Investment. Natürlich sind große Infrastrukturen mit hohen Kosten wie 550 Millionen für die Tramstrecke eine andere Geschichte.
Luxemburg hat ja auch ganz andere finanzielle Mittel zur Hand als die Nachbarn.
Natürlich, aber solche Investitionen müssen volkswirtschaftlich gesehen werden. In den letzten 30 Jahren haben wir den ÖPNV viel zu oft aus mikroökonomischer Sicht betrachtet. Die ständige Frage „Ist das finanziell eigentlich rentabel?" ist Quatsch. Vielmehr muss man sich fragen: Was bringt es mir als Stadt? Als Region? Dann läuft die Diskussion anders. Der Preis ist übrigens nicht das Wesentliche. Was zählt, ist die Qualität. Das beste Beispiel ist die Schweiz. Die Verkehrsmittel in der Schweiz sind am teuersten, werden dort aber am meisten genutzt. Warum? Weil die Qualität einfach stimmt. Ich kann nicht verlangen, dass jemand den ÖPNV oder die Mobilitätskette nutzt, wenn die Qualität miserabel ist, wenn Fahrradwege nicht gut sind, wenn die Verkehrsmittel konstant Verspätung haben oder nur einmal pro Stunde fahren. Dann ist der ÖPNV gar nicht attraktiv.
Der Preis spielt aber schon eine wichtige Rolle, oder? Der ÖPNV in Luxemburg ist im Moment für junge Leute kostenlos, bald für alle.
Wichtig ist, dass man junge Leute von vorherein gewöhnt, den ÖPNV zu nutzen. Der Führerschein ist für die jüngere Generation ohnehin nicht mehr so wichtig. Heute wollen junge Leute zwar mobil sein, es ist ihnen aber egal mit welchen Mitteln. Die digitalen Techniken von heute geben unbegrenzte Möglichkeiten, um Mobilität zu schaffen und die Verkehrsmittel zu kombinieren. Von der Preisstruktur her haben wir das billigste Verkehrsmittel in ganz Europa. Wir wollen daran nichts ändern. Für Studenten ist es kostenfrei, bis 20 Jahre zahlt man ohnehin nichts. Wir haben einen schlechten Kostendeckungsgrad, gerade einmal sieben Prozent, in der Schweiz sind es fast 40 Prozent. Ich sage aber immer: Das wichtigste ist, die Qualität zu verbessern. Wenn die Multimodalität sich durchgesetzt hat, werden wir sehr viel Geld sparen.
Was würden Sie den Nachbarländern empfehlen? Saarbrücken etwa ertrinkt im Autoverkehr.
Dort sollte man den gleichen Weg wie die Stadt Luxemburg gehen. Luxemburg hat eine enorme wirtschaftliche Anziehungskraft. Auf dem Territorium der Stadt können wir das nicht alles bewältigen. Wir müssen großregional denken. Auch die Metropolen um Luxemburg sollten wir miteinbeziehen. Saarbrücken, Metz, Nancy… die Zusammenarbeit muss viel besser werden. Wir haben nicht den Platz in Luxemburg, um alle Interessenten auf unserem Territorium anzusiedeln. Wir können Projekte ja durchaus gemeinsam entwickeln. Wenn sich morgen im Saarland ein Industriebetrieb ansiedelt, der eigentlich wegen Luxemburg kommt, können wir ja immer noch davon profitieren. Die Dienstleistungen wie Finanzdienstleistungen gibt es dann in Luxemburg. Aber die Lebensqualität muss eben stimmen, was im Moment nicht immer der Fall ist. Deshalb ist es wichtig, die Stadt Luxemburg multimodal zu entwickeln. Die Menschen leben ohnehin immer urbaner. Aber sie möchten nicht in einem Umfeld leben, das im Autoverkehr ertrinkt. Und im 21. Jahrhundert wird sich dieser Trend noch verstärken. Ein modernes Mobilitätskonzept ist nicht nur für Luxemburg wichtig, sondern auch für Saarbrücken, für Nancy, für Metz. Nancy und Metz sind jetzt auf dem richtigen Weg. Mit einer falschen Verkehrspolitik kann man die Zukunft komplett verspielen.