Der Name sagt alles: Das „Ungeheuer" ist geradezu fabelhaft, ungeheuer lässig und selbstbewusst. Chef Marco Lusetti prägt seit zwei Jahren mit seiner italo-regionalen Fusions-Küche das Restaurant im Neuköllner Körnerpark-Kiez.
Im tiefsten Neukölln passiert Ungeheuerliches in der Küche. Das verblüfft uns auf dem Teller und am Gaumen, ist flankiert von einer ordentlichen Portion Fabulierlust und schickt einen unweigerlich in die Verdammnis der Wortspielhölle. Die Ankunft dort ist mit diesem Texteinstieg zum Restaurant „Ungeheuer" in der Emser Straße also schon erledigt. Das Ungeheuerliche in den Gerichten wirkt immer noch nach – und zwar positiv. Und darum soll es auch gehen, wenn man sich in die Straßenschluchten des ehedem wenig glanzvollen Teils von Neuköllns begibt und gut essen will.
In dem von außen unscheinbar und von innen wohnhöhlenartig gestalteten Lokal wirkt Marco Lusetti seit zwei Jahren segensreich. Der Küchenchef bringt mit seinem Souschef Francesco Compiani ganz eigene Interpretationen auf die Teller. Wachtel-Ragout trifft auf Paccheri-Nudeln trifft auf Topinamburchips – so sieht die neue Neuköllner Fusion-Küche aus. Das insgesamt vierköpfige Küchenteam kocht streng produktbasiert; es wird ohne großes Arrangement-Chichi geschickt. Die Gerichte überzeugen mit „Forza" in den Aromen, aber dennoch fein abgestimmt. Kein Kräutlein oder Käse-Krümel ist zu viel oder zu wenig auf dem Teller. Das „Ungeheuer" ist mit seinem Mix aus lässiger Attitüde und Präzision wahrlich eine Überraschung. Es ist eher die Güteklasse gepflegter Körnerpark als – gerade noch so eben – schröddeliger Hermannstraßenkiez, um zwei gegensätzliche Eckpunkte in nächster Nähe zum Vergleich heranzuziehen.
2018 Ganz vorne dabei bei Wahl zum Szenerestaurant
Weil die 30 Plätze im Lokal abends häufig ausgebucht sind, treffen wir als dienstliche Vorkoster an einem Donnerstagnachmittag ein. Bekommen einen exklusiven Sitzplatz unterm Kaffeefilter-an-umgedrehtem-Baum-Lampen-Gebilde und ein Gespräch mit Maître Matthias Lintner. In der Küche bereiten Marco Lusetti und Francesco Compiani den „Dinnerstag" vor, und Restaurantleiter Sebastian Schönfuß deckt die Tische für den Abendservice ein. Eigentlich will das Team noch mehr weg vom Frühstück, das aber die Gäste im Kiez sehr schätzen. Der Fokus soll sich noch stärker auf das ausgefeilte Dinner richten, das nicht nur à la carte, sondern auch als sechsgängiges Menü für 65 Euro angeboten wird. Die abendlichen Ambitionen treffen auch offiziell auf Gegenliebe: Die Jury der „Berliner Meisterköche" nominierte das „Ungeheuer" als „Szenerestaurant 2018". Mit nur einer Stimme mehr machte aber das ebenfalls in Neukölln beheimatete „Tisk" das Rennen.
Der Popularitätsschub kam dennoch und mit ihm die neugierigen Gäste. Der Sprung vom Kiez-Lokal zum Restaurant mit Ambition war dabei mehr oder weniger Zufall und insoweit typisch Berlin. Marco Lusetti wohnte im Haus, arbeitete im „Bocca di Bacco" sowie zuvor in Paco Pérez’ „Cinco" und kam an seinen freien Abenden gern auf ein Bier herunter. Eine erste, hingeflachste Idee von „Kannste mal bei uns helfen?" wurde vor zwei Jahren zu einer echten Partnerschaft. Seither kocht Lusetti eine Karte, die „lokal fokussiert und global kunstvoll ist", wie es auf der Website heißt. Die Ansage ist ernst zu nehmen: Lusetti lernte beim zweifach besternten Antonino Cannavacciuolo sein Handwerk und arbeitete insgesamt sechs Jahre in der „Villa Crespi" im Piemont. Das Ergebnis im „Ungeheuer": ein Mix aus Fine Dining alla italiana mit regionalen Einschlägen. Typisch deutsche Zutaten, etwa Wurzeln wie Pastinake oder Rote Bete, sind solche lokalen Partner, die in der italienischen Küche nicht gängig sind, mit denen Lusetti aber gern arbeitet.
Das Ungeheuer wurde nie gesehen
Dann mal nichts wie ran an das Selleriepüree! Das umschmeichelt Ochsenbäckchen-Türmchen und macht sich fluffig zu Süßkartoffelchips. Das Fleisch hat ein paar Extra-Umdrehungen genommen und kommt nicht einfach so als schlichtes Schmorgericht daher. Zunächst wurde es 24 Stunden sous vide gegart, dann auseinandergezupft, zur Rolle zusammengefügt, aufgeschnitten und in Zinnsoldaten-Manier auf den Teller gestellt. Im Selleriepüree ist die Süße des Wurzelgemüses komprimiert. Das Jus zum Fleisch und der Sellerie befeuern sich gegenseitig. Und wir schieben uns die Teller munter über den Tisch hinweg zu: Ich habe zuerst vom „Witlof" probiert. Hinter dem exotisch klingenden Namen steckt „weißes Laub". So wird Chicorée in Belgien bezeichnet, verrät Matthias Lintner. Die hellen Blätter wurden geschmort und mit schwarzen Linsen und Sour Cream gefüllt. Das Chicorée-„Sandwich" wird von einer Espuma aus Amandine-Kartöffelchen umschmeichelt und von einem Bread Crumble getoppt – ein leichtes, gemüsiges Wintergericht. Vermutlich ist es später, am „Dinnerstag"-Abend, Bestandteil des Überraschungsmenüs. Chef Lusetti kombiniert in diesem wöchentlichen Special drei Gänge aus der laufenden Karte mit drei neuen Gerichten. „Wir zeigen das, was ist, und geben einen Ausblick auf das, was kommt", sagt Matthias Lintner. Für 39 Euro pro Person und ab mindestens zwei Personen an einem Tisch gibt’s das jeden Donnerstagabend. Ansonsten wechselt das Menü alle zwei Monate.
Beim Risotto zeigt die Italien-Fraktion dann so richtig, was sie kann. Ein „gealterter" „Acquerello" – ein eineinhalb Jahre gelagerter Carnaroli-Reis aus dem Piemont, Kürbis, Ziegenkäse, Macadamia-Nüsse und einige Schokominze-Blättchen: Mehr braucht es nicht, um den italienischen Feinschmecker-Fotografen, die Begleiterin und mich zum wohligen Aufseufzen zu bringen. Die Begleiterin wird kurz übergriffig und will die Minze-Blättchen zum Fotografieren „auf rechts" drehen. Aber: „Das macht Marco so und hat sich was dabei gedacht", bremst Matthias Lintner sie aus. Der Kürbis haftet schlotzig an den großen Reiskörnern, alles vermengt sich mit milder Ziege und nussigem Knack zum perfekten Wohlfühl-Essen auf dem Löffel.
Golden gepuderte Kugel mit Zipfelnase
Neben den sehr guten Produkten braucht es eben doch genau das rechte Maß von Handwerk und einen Tick vom künstlerischen „Gewusst-Wie". Das Resultat ist in jedem Fall beglückend. So mitten am Nachmittag bleiben wir „trocken" beim Wasser. Hätten wir aber die Dienste von Sebastian Schönfuß oder Maître Matthias so richtig in Anspruch genommen, wäre wahrscheinlich ein Riesling mit Gewürztraminer vom Amalienhof die Empfehlung zum Risotto gewesen.
Ob das „Ungeheuer", das dem Restaurant seinen Namen gab, goldene Kugeln in seinen Krallen transportiert? Es bleibt mysteriös, denn „noch nie hat es einer gesehen", sagt Matthias Lintner. Vielleicht hatte sich das Ungeheuer aufgescheucht gefühlt? Nachdem zuvor in dem Ladenlokal ein Seifengeschäft, eine Apotheke und dann „20 Jahre gar nichts" gewesen war, mochten die Renovierungsarbeiten vor mehr als neun Jahren womöglich seine Ruhe gestört haben. Es sei umhergeflogen und gelegentlich an die Scheiben geprallt. Schließlich habe man Farbeimer aufgestellt. Es sei hineingefallen und habe beim Heraushüpfen Spuren auf dem Fußboden hinterlassen. Die einen sagen: gabelförmige, die anderen vogelfußartige. Zur Sicherheit erstellte Adrian Dahms, ein Freund des Hauses, eine Phantomzeichnung: Ein insektenartiges Geschöpf mit Panzer und fraglos gabelförmigen Krallen kam dabei heraus.
Beste Voraussetzungen also, um den „Goldenen Ungeheuer Mond" zum Dessert auf unsere Teller zu transportieren. In der „Lunea Aurea", einer golden gepuderten Kugel mit Zipfelnase verbirgt sich eine weiße Schokoladen-Mousse. Prinzip Matrjoschka: In die helle, nur wenig süße Creme ist eine „Nocciolata"-Kugel aus nussiger Creme gebettet. Nur Piemont kommt in die Kugel, versteht sich, stammt doch Marco Lusetti aus Domodossola und weiß, dass es in seiner Heimat die aromatischsten Haselnüsse gibt. Zweifellos, das Ungeheuer selbst ist scheu. Auch wir haben es nicht zu Gesicht bekommen. Aber vor allem ist es fraglos ein Gourmet. Schön, dass es so großzügig ist, uns Gästen „sein" Restaurant an beinah jedem Abend zu überlassen.