Jürgen von der Lippe alias Hans-Jürgen Hubert Dohrenkamp ist einer der bekanntesten deutschen Unterhaltungskünstler. Heute ist der 70-Jährige kaum noch im TV zu sehen, stattdessen geht er regelmäßig auf Theatertour oder schreibt Bücher wie „Nudel im Wind".
Herr von der Lippe, am Anfang von „Nudel im Wind" heißt es, dass Sie sich zu Hause fühlen „in der Psyche der Sanftmütigen, Unscheinbaren mit ihren kleinen liebenswerten Macken". Ist damit die Fernsehbranche gemeint?
Man darf mich nicht bei jeder Wendung fragen, wie ich darauf gekommen bin. Textproduktion ist ein Mysterium, und die Rezeptionsmöglichkeiten sind vielfältig. Ich wollte einfach einen einigermaßen originellen Anfang schreiben. Mehr ist es nicht.
Sind Sie ein Menschenbeobachter?
Ich sitze in der U-Bahn, gucke mir die Leute an und stelle mir dabei vor, was die so machen in ihrem Leben. Das machen wahrscheinlich alle, sofern sie nicht wie 99 Prozent der Leute auf ihrem Handy rumspielen. Ich sehe in der U-Bahn kaum noch jemanden mit einem Buch in der Hand.
Ihr Protagonist Justus Lenz ist ein Ex-Zuhälter mit „goldenem Herzen". Gibt es für ihn ein Vorbild?
Ich kenne relativ wenige Zuhälter. Unter anderem wegen dieser Figur bezeichne ich mein Buch als Medien-Krimi-Groteske. Vieles ist stark überzeichnet. Eine Satire hingegen will etwas anprangern, das will ich nicht. Meine Sympathien sind beim Personal der TV-Schaffenden verteilt. Ich habe das Ganze im Fernsehen spielen lassen, weil ich mich da einigermaßen auskenne.
Entwirft Ihr Roman ein Spiegelbild der Gesellschaft?
Ich weiß nicht, ob man irgendeine Arbeit als Spiegel der Gesellschaft bezeichnen kann. Es ist ja ein künstliches Biotop, das wenig mit dem zu tun hat, was einen Menschen wirklich umtreibt. Mein Hauptanliegen ist, dass die Leser sich nicht langweilen. Für einen Roman habe ich eine hohe Gag-Dichte angestrebt. Es soll aber auch spannend und interessant sein. Man soll die Figuren durchaus mögen oder hassen, ohne dass ich mich übertrieben lange an der psychologischen Feinzeichnung aufhalten möchte.
Wie haben Sie sich in die weiblichen Charaktere hineinversetzt – zum Beispiel in die blitzgescheite, attraktive Visagistin Lisa Haiter, die Psychologie und Theaterwissenschaften studiert hat?
Sie ist wahnsinnig attraktiv, aber das reicht ja nicht als Beschreibung eines Menschen. Deswegen habe ich ihr ein paar Attribute zugeordnet, die man nicht vermuten würde. Das macht den Reiz dieser Figur aus; vor allen Dingen, weil sie den erfolgreichen TV-Produzenten Hermjo Benek-Söderbaum auf Granit beißen lässt, der das Zerrbild eines Machos ist.
Ihre Frau wollte den sexuellen Spielraum der weiblichen Hauptfigur einengen. Hat sie sich wirklich ins Schreiben eingemischt?
Das ist nicht meine Frau, so wie ich das auch nicht bin. Wir sind zwei Romanfiguren einer zweiten Ebene. Ich fand es witzig, dass eine Frau versucht, massiv Einfluss zu nehmen. Ich habe sie ein bisschen konservativ sein lassen, aber diese Figur hat mit meiner realen Frau nichts zu tun. Natürlich steckt in vielen meiner Geschichten etwas von mir drin, aber das sind in erster Linie meine Interessensgebiete. Ich habe zum Beispiel Boxen und Kampfsport gelernt, ich koche gerne und habe Spaß an Wortspielen.
Sie sind ein leidenschaftlicher Koch, das merkt man dem Buch auch an. Ist Ihnen die Idee zur „Speckweg-Show" beim Kochen gekommen?
Die Frage, wie ich auf die einzelnen Sachen gekommen bin, kann ich beim besten Willen nicht mehr beantworten.
Hätte die „Speckweg-Show" mit Schachbox-Spektakel in der realen Fernsehwelt eine Chance?
Nein, sie wäre viel zu teuer. Da habe ich mir einfach eine Sendung zusammengeträumt, die ich persönlich schön fände. Das ist wie ein Western, bei dem aus einem Sechsschüsser 120 Kugeln abgefeuert werden.
Es gibt Casting-Agenturen, die darauf spezialisiert sind, Kandidaten mit den unterschiedlichsten Profilen für TV-Shows zu suchen. Geht heute gar nichts mehr ohne Casting?
Doch, es geht schon. Es würde sicher genügend Leute geben, die gerne ihr Übergewicht loswerden und gleichzeitig ins Fernsehen wollen.
Steht der Sieger einer TV-Show oftmals von Anfang an fest? Sprich: Kann man es wirklich steuern, wer Publikumsliebling wird?
In manchen Fällen ist das einfach so. Ich verurteile das nicht, weil es einfach ein konsequenter Gedanke ist. Wenn jemand ein Publikumsliebling ist, dann wollen die Leute, dass diese Person auch gewinnt. Das kann man steuern durch die Auswahl des gezeigten Materials. Beim „Dschungelcamp" zum Beispiel hat man ja täglich 24 Stunden Material zur Verfügung. Da kann man jeden Teilnehmer sympathischer erscheinen lassen als er wirklich ist. Ich empöre mich nicht darüber, weil es Teil des Business ist.
Das Klischee lautet, beim Fernsehen sind alle zynisch und koksen pausenlos.
Das schreibe ich auch kurz in meinem Buch. Es gibt aber nicht nur beim Fernsehen Leute, die koksen! Ich habe Schwein, dass mir das Zeug nie angeboten wurde. Konstantin Wecker schrieb vor Jahren, Koks gäbe einem das Gefühl, besser kreativ sein zu können. Um Gottes willen, da wäre ich wahrscheinlich sehr anfällig. Das ist eine große Versuchung für jeden Kreativen.
Was ist Ihre Kreativdroge?
Meine Antennen sind immer ausgefahren. Dadurch, dass ich mich bemühe, jeden Tag zu schreiben, habe ich wahnsinnig viele angefangene Geschichten. Mein eigentliches Arbeitszimmer kann ich schon gar nicht mehr betreten, weil die Stapel mit Zeitungsausschnitten immer höher werden. Wenn mir mal partout nichts einfällt, gucke ich mir meine angefangenen Texte an. Und irgendwann fällt mir eine Fortsetzung in den Schoß.
Wo gibt es im TV noch „echte Charaktere mit allen Ecken, Kanten und Brüchen"?
Die gibt es überall. Ich gehöre noch zu den Leuten, denen man eine kreative Genieleistung zutraute. Ich hatte mal einen Unterhaltungschef, der sagte: „Ach, Sie wollen ‚Donnerlippchen‘ nicht weitermachen? Das ist aber schade. Dann lassen Sie sich mal was einfallen!" Diesen Satz wird heute niemand mehr hören.
Woran liegt das?
Heute reden große Runden von Leuten mit, die überhaupt nicht qualifiziert sind. Die weder auf einer Bühne gestanden haben noch besonders komisch sind. Jeder Psychologe weiß, dass Brainstorming Quatsch ist. Was machen sie aber beim Fernsehen? Brainstorming! Die zerreden jeden Einfall. Oder sie gehen auf Nummer sicher und kaufen irgendwo auf der Welt ein erfolgreiches Format ein. Das kann auch funktionieren. Stefan Raab war der letzte Diktator, der seine eigenen Sendungen erfinden durfte. Und er hat verdammt gute gemacht.
Welches war die absurdeste Show, in der Sie jemals aufgetreten sind?
Ich erinnere mich an Oliver Pochers erste Show, in der ich zu Gast war. Er hatte sich vorgenommen, dass ich Bullenhoden vorbereite und er wollte davon probieren. Das Fleisch ist unheimlich zäh, aber wir hatten überhaupt kein ordentliches Messer. Olli meinte, ich solle den Hoden ganz braten, aber das hätte drei Stunden gedauert. Irgendwie habe ich ihn ein bisschen klein gekriegt und innen war er sicherlich noch roh, aber Olli war wild entschlossen, ihn vor der Kamera zu essen. Das hat er dann auch gemacht.
Haben Sie die Filmrechte an „Nudel im Wind" eigentlich schon verkauft?
Nein, aber es wäre schon schön, wenn Til Schweiger oder wer auch immer anriefe. Ich habe das Buch sehr filmisch geschrieben.
Können Sie sich nach diesem Buch überhaupt noch bei den Sendern blicken lassen?
Haben Sie den Eindruck? Sie sind der zweite, der so was sagt. Der erste war mein Lektor. Er wunderte sich, dass ich so hart sein kann.
Ihr Personal verzichtet nicht auf Zynismus.
Ja gut, aber so eine Figur spielt ja in einem Ensemble eine Rolle. In der Regel ist ein Redakteur einfach keine Hilfe. Die haben ja alle Angst. Wir stehen auf unterschiedlichen Seiten der Barrikaden. Wir Kreativen wollen etwas machen und die Redakteure wollen sich gegenüber dem Sender absichern. Entweder heißt es: „Das ist zu teuer" oder „Das will unser Publikum nicht sehen". Letzteres ist eine erbärmliche Allzweckwaffe, die mich rasend macht.
Womit trifft man heutzutage den Nerv der Zuschauer?
Ich weiß es nicht, deswegen muss man ja ausprobieren. Wie viele Überraschungserfolge haben wir? Das, was mir Spaß macht, ist möglicherweise nicht mehr der Mainstream. Christian Ulmen und Fahri Yardim haben sich mit „Jerks" wirklich was getraut. Da werden alle Tabus gebrochen. Ich habe den Comedian Maxi Gstettenbauer gefragt, ob seine Szene bei „Jerks" wirklich improvisiert war. Maxi erzählte mir, dass sie fünfmal ohne Textvorgabe gespielt wurde. Und daraus hat Ulmen dann die Szene geschnitten. Das ist natürlich super.
Mit welchen Tabus werden Sie brechen bei Ihrer „Nudel im Wind"-Lesereise?
Da sind doch keine Tabus drin. Es wäre eine komische Attitüde, wenn ich in relativ hohem Alter den Rebellen gäbe. In dem Buch sind wahrscheinlich Sachen drin, an denen sich Leute stören. Aber da müssen wir alle durch. Ich möchte aber noch anmerken, dass ich das Hörbuch mit 41 verschiedenen Stimmen eingelesen habe. Kein schlechtes Pensum! Die Lesung, mit der ich natürlich auch auf Tournee gehe, heißt „Nudel im Wind und Best of bisher". In der ersten Hälfte stelle ich den Roman vor, so weit es geht ohne zu spoilern, die zweite Hälfte besteht aus den besten Texten der letzten 14 Bücher.
Werden Sie auch den passenden Song zu Ihrem aktuellen Buch „Nudel im Wind" singen?
Ich arbeite dran, er wird irgendwann fertig.