Krise als Chance: Weil der TC Freisenbruch vor einigen Jahren kurz vor der Auflösung stand, setzten die Mitglieder auf einen wahrhaftig revolutionären Ansatz. Sie wandelten den Kreisliga-Club aus dem Essener Osten zum ersten volldigitalisierten Fußballverein der Welt um. Mit Erfolg.
Bayern München und Borussia Dortmund haben auf dem viel gepriesenen Zukunftsmarkt China Konkurrenz bekommen. Doch nicht etwa Schalke 04 oder Borussia Mönchengladbach schicken sich an, den deutschen Branchenführern im wirtschaftlich lukrativen Reich der Mitte Geschäftsanteile abzujagen, sondern die Macher des Essener A-Kreisligisten TC Freisenbruch. Auf der internationalen Sportartikelmesse (Ispo) Mitte Januar in Peking jedenfalls gehörte der Verein zu den Rennern beim hochinteressierten Publikum.
Warum sich nicht die Bayern und der BVB in Chinas Metropole einem Heer potenzieller Fans (= Kunden) präsentieren konnten? Weil Freisenbruch nach seiner Rettung vor der Auflösung die Wende durch einen einzigartigen Ansatz schaffte und sich inzwischen als erster volldigitalisierter Fußballverein weit über Essens und Deutschlands Grenzen hinaus einen Namen gemacht hat.
Der Club hat dadurch nicht nur, aber eben besonders, den technikaffinen Chinesen tatsächlich mehr zu bieten als bloß ein neugestaltetes Trikot oder eine einmal mehr redesignte Schirmmütze wie bei München oder Dortmund. Beim TC Freisenbruch nämlich kann jeder, wirklich jeder, ein Kollege von Bayern-Sportdirektor Hasan Salihamidzic oder Dortmunds Geschäftsführer Hans-Joachim Watzke sein. Wer zum Kader gehört; wer spielt; wie gespielt wird; wie hoch der Eintrittspreis ist; was ein Bier und eine Bratwurst kosten; welche Tormusik gespielt werden soll – für fünf Euro monatlich können Internetnutzer weltweit die Geschicke des bald 120 Jahre alten Revierclubs mitlenken.
Freisenbruchs Führungstrio mit Sportchef und Trainer Peter Schäfer sowie Peter Wingen und Geschäftsführer Gerrit Kremer hat die populären Online-Managerspiele buchstäblich Realität werden lassen. Denn jeder Teilnehme – ob bislang in Essen, München, Berlin, Spanien, der Schweiz, Österreich oder sogar Vietnam und neuerdings eben auch China – kann online Manager spielen. Jede anstehende Frage wird von Freisenbruchs inzwischen rund 700 Managern im Echtzeit-Chat debattiert und letztlich über ein spezielles Tool auf der Internetseite des Vereins auch „total basisdemokratisch" (Schäfer) entschieden: „Wir können", verdeutlicht Schäfer, „sogar darüber abstimmen, ob wir etwa für Cristiano Ronaldo ein Angebot machen, auch wenn wir keine 100 Millionen Euro und stattdessen nur eine Kiste Bier bieten könnten."
Für fünf Euro monatlich kann jeder mitentscheiden
Auch die Trainer-Frage könnte diskutiert werden. Wenn die laufend überprüfte Zustimmung für den Coach, der die Aufstellung für seine Mannschaft sozusagen „diktiert" bekommt und in Spielen erst nach der Halbzeitpause eigenverantwortliche Entscheidungen mit Einfluss auf die Begegnung treffen darf, unter einen gewissen Wert fällt, ist der real existierende Vereinsvorstand vor Ort gefordert. Für ihre Meinungsbildung bekommt die globale Manager-Community alle nur erdenklichen Informationen bis hin zu einem ursprünglich nur für Profivereine entwickelten Tracking mit individuellen Leistungsdaten jedes einzelnen Spielers zur Verfügung gestellt.
Das Modell hat bekannte Vorläufer. In England konnte der Verein Ebbsfleet United durch über 30.000 Manager über eine Million Euro einsammeln, ehe das Interesse 2010 nach etwas mehr als einem Jahr massiv einbrach. Bei Fortuna Köln wollte Starregisseur Sönke Wortmann eine ähnliche Idee mit „Deinfussballclub.de" auf den Weg bringen, doch fehlte zum Erfolg die Entscheidungshoheit der Community in wichtigen Fragen wie etwa der Aufstellung.
In Freisenbruch hingegen zahlt sich das Projekt, das für den Verein nach einem längeren Sinkflug bis in die zweitunterste Spielklasse im wahrsten Sinne des Wortes „der letzte Strohhalm" gewesen ist, inzwischen aus. Auf der Sponsorenseite stehen Einnahmen von schon mehr als 40.000 Euro – das Geld der Online-Manager. Für einen Kreisligisten eine mehr als beachtliche Summe. „Vielleicht schlägt Konzept bisher Kohle", sagt Schäfer und zieht augenzwinkernd einen erstaunlichen Vergleich: „Unsere Wachstumskurve ist steiler als die des FC Bayern."
Verwendung für das Geld hat Freisenbruch reichlich. Seit über zehn Jahren betreibt der Club am ehemaligen Bergbaustandort sein Waldstadion Bergmannsbusch in Eigenregie. Der Stadt Essen war der Unterhalt der Anlage schlichtweg zu teuer. Kein Wunder: Das Spielfeld ist ein Aschenplatz, bei Regen finden gerade einmal 30 Zuschauer Schutz in einem verwitterten Unterstand, und die Kabinen haben ihre besten Tage schon mehrere Jahrzehnte hinter sich. Zwar erscheinen die Arena und ihr Gelände in der Ära von Hochglanzprodukten Bundesliga und Champions League einerseits wie einer der letzten Rückzugsorte für Fußball-Romantiker. Aber andererseits beraubte der Aufwand für die Instandhaltung – ob eine einzelne Schraube, eine Flutlichtbirne oder der Warmwasserkessel – den TCF nahezu sämtlicher vorhandener Mittel.
„Wachstumskurve ist steiler als die des FC Bayern"
Doch dank der völligen Digitalisierung des Vereinsgeschehens haben sich die Zeiten geändert. Bezirksliga, Westfalenliga oder noch höher? Für Freisenbruch womöglich alles andere als Luftschlösser. „Denn", rechnet Schäfer vor, „theoretisch ist ja auch denkbar, dass irgendwann einmal auch 10.000 oder sogar 20.000 mitmachen, und dann hat man natürlich auch ganz andere Möglichkeiten".
Den nächsten kleinen Schritt in eine rosigere Zukunft haben Schäfer und seine Mitstreiter schon durch den selbstfinanzierten Trip nach China gemacht: „Durch die vielen Neuanmeldungen nach der Ispo in Peking haben wir die Reisekosten fast schon wieder gedeckt", beschreibt Kremer das Echo unter Chinas Fußball-Fans auf Freisenbruchs Messe-Auftritt. Bald schon soll ein eigenes Produkt im chinesischen App-Store den Aufschwung weiter verstärken. „Unsere Zukunft", meint Kremer optimistisch, „sehen wir in China".