Rechtzeitig zur Europawahl im Mai wollten die Brüsseler Technokraten den EU-Bürgern die Abschaffung der ungeliebten Zeitumstellung präsentieren. Die damit verbundenen Probleme wurden von Juncker und Co. unterschätzt, weshalb der ambitionierte Plan frühestens 2021 umgesetzt werden kann.
Am Beispiel Zeitumstellung zeigt sich wieder mal, dass sich Geschichte doch immer wiederholt. Denn 2019 ist das Jahr, in dem die erstmalige Abschaffung der Zeitumstellung 100 Jahre alt wird. 1919 wurde die schon damals ungeliebte Sommerzeit erstmals abgeschafft, die in der Nacht zum 1. Mai 1916 aus Energiespargründen und auch als Machtdemonstration während des Ersten Weltkrieges angeordnet wurde. Quasi zum Jubiläum wollte die EU-Kommission unter Federführung ihres Präsidenten Jean-Claude Juncker das Vor- und Rückstellen der Uhren zum
31. März 2019 ein für alle Mal aus der Welt schaffen. Dieses war für alle EU-Mitglieder seit 1996 verbindlich.
Auslöser der überraschenden Debatte um das Ende der Zeitumstellung war eine Anfrage des Europaparlaments an die EU-Kommission vom Februar 2018. Der Grund: Der für die letztmalige Einführung der Zeitumstellung infolge der beiden Ölpreiskrisen in den 70er-Jahren ausschlaggebende Energiespareffekt hat sich nicht eingestellt, und immer mehr Bürger empfinden den Wechsel zwischen Sommer- und Winterzeit als lästig. Deshalb forderten die Abgeordneten von der Kommission eine Überprüfung und einen Vorschlag für eine künftige Neuregelung. Die EU-Kommission stürzte sich in die Aufgabe. Auch wenn ihr zunächst nicht viel mehr einfiel als der Start einer nicht repräsentativen Online-Befragung von EU-Bürgern im Juli 2018. Obwohl Wissenschaftler erhebliche Zweifel bezüglich der Methodik der Umfrage angemeldet hatten und von den 4,6 Millionen Teilnehmern allein rund drei Millionen aus Deutschland stammten, so war das Ergebnis doch ein Paukenschlag: Rund 84 Prozent der Befragten hatten sich gegen die Zeitumstellung ausgesprochen. In ihrem Bemühen, Bürgernähe und verlorenes Vertrauen hinsichtlich der Brüsseler Institutionen zurückzugewinnen, preschte Juncker daraufhin im Alleingang und ohne ausreichende Konsultationen mit den eigentlich dafür mit verantwortlichen Ländern vor: „Die Leute wollen das, also machen wir das."
Rechtzeitig vor Umstellung auf die Winterzeit Ende Oktober 2018 sickerten die konkreten Pläne der EU-Kommission an die Öffentlichkeit. Demnach sollten die Uhren letztmals am 31. März 2019 in den EU-Staaten verbindlich umgestellt werden. Beim folgenden Termin, am 27. Oktober 2019, sollte eine mögliche nochmalige Zeitumstellung für die Mitgliedstaaten freiwillig sein. Danach sollte jedes Land für sich entscheiden, ob bei ihm künftig dauerhaft die Sommer- oder die Winterzeit gelten sollte.
Die Pläne riefen heftige Kritik und Widerstand seitens verschiedener Mitgliedsländer hervor, vor allem weil damit die offenkundige Gefahr eines zeitlichen europäischen Flickenteppichs heraufbeschworen wurde. Ohne bilaterale Absprachen könnte es ein Szenario geben, bei dem selbst in Nachbarländern wie Deutschland und Frankreich künftig die Uhren unterschiedlich ticken würden. Deshalb wurden Sondierungen zwischen Paris und Berlin aufgenommen, um zumindest in Mitteleuropa eine gemeinsame Zeitzone zu etablieren, der sich möglichst auch die Beneluxstaaten anschließen sollten. Österreich wollte es ohnehin vermeiden, sich zeitlich von Deutschland zu entfernen, auch wenn dort klar die Präferenz für die fixe Sommerzeit geäußert wurde. Auch Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier und Bundesgesundheitsminister Jens Spahn hatten sich im Oktober für die dauerhafte Einführung der Sommerzeit stark gemacht, Kanzlerin Merkel hatte sich diesbezüglich bedeckt gehalten.
Benjamin Franklin war Ideengeber
Ein Okay für die Abschaffung der Zeitumstellung kam im November auch vom Bundesrat, allerdings mit der Einschränkung, dass sich alle Mitgliedsstaaten auf eine gemeinsame Standardzeit einigen müssten, um isolierte Zeitinseln, die den Handel erheblich beeinträchtigen, in Europa zu vermeiden. Fraglos allesamt sehr vernünftige Überlegungen, die sich allerdings nur schwerlich mit Vorhaben anderer Staaten in Einklang bringen lassen. So tendieren laut Angaben der EU-Kommission Staaten wie Portugal, Zypern und Polen zur Sommerzeit, während Finnland, Dänemark und die Niederlande die Winterzeit präferieren. Griechenland hat sogar ausdrücklich betont, dass es die Zeitumstellung beibehalten möchte. Auch in Schweden überwiegt die Skepsis gegenüber einer Abschaffung der Zeitumstellung.
Wie heikel das Problem eigentlich ist, mag folgendes Beispiel dokumentieren: Sollten sich alle EU-Länder für die Sommerzeit aussprechen, würde das für Spanien bedeuten, dass dort die Sonne im Winter erst gegen 10 Uhr aufgehen würde. Würden sich hingegen alle für die Winterzeit entscheiden, würde es in Polen im Sommer schon gegen drei Uhr morgens hell werden. Die bisherige Zeitumstellung wirkt diesen beiden Extremen bislang dämpfend entgegen. Zusätzlich gibt es zur Abfederung in der EU drei Zeitzonen: In Portugal, Irland und dem Vereinigten Königreich gilt die mittlere Greenwich-Zeit, in 17 EU-Staaten gilt die mitteleuropäische Zeit mit einem einstündigen Unterschied zur Greenwich-Zeit, in acht weiteren Ländern gilt die osteuropäische Zeit, dort ist es noch eine Stunde später.
Technologische Probleme, etwa Software-Abstürze, schließen Experten bei einer Abschaffung weitgehend aus. Branchen wie die Luftverkehrswirtschaft haben zwar Bedenken geäußert, aber etwaige Beeinträchtigungen könnten relativ schnell behoben werden. Schlafmediziner hingegen haben sich für die dauerhafte Normalzeit, die Winterzeit, stark gemacht. Laut der Deutschen Gesellschaft für Schlafforschung und Schlafmedizin sei diese für den Wach-Schlaf-Rhythmus besser geeignet, wohingegen die feste Sommerzeit Schlafmangel sowie Konzentrations- oder Leistungseinbußen zur Folge haben könnte.
Die ganze Aufregung um die Umstellung kam aber schon im Dezember wieder zum Erliegen. Die EU-Kommission entschloss sich aufgrund der Länderproteste zu einer Kehrtwende und setzte den 28. März 2021 als neuen Termin fest. Nur Schweden, Polen und Großbritannien meldeten daraufhin grundsätzliche Bedenken gegen das Ende der Zeitumstellung an. Alle anderen EU-Mitgliedsländer können nun versuchen, sich auf eine Standardzeit zu verständigen.
Die Idee für die Zeitumstellung hatte übrigens Benjamin Franklin, einer der Gründungsväter der Vereinigten Staaten. Schon 1874 hatte er, nicht ganz ernst gemeint, etwas wie die Sommerzeit zum Einsparen von Kerzenwachs vorgeschlagen. Der britische Baulöwe William Willet sprach sich in einer Publikation 1907 dafür aus, die Uhren im Sommer 80 Minuten vorzustellen, um Energiekosten zu sparen. Seine Idee wurde wenig später vom Deutschen Reich aufgegriffen. Nach der Abschaffung der Sommerzeit in der frühen Republik führten die Nazis die Zeitumstellung 1940 wieder ein. Nach Ende des Krieges gab es in Deutschland ein Zeitchaos, da in den westlichen Besatzungszonen die Sommerzeit beibehalten wurde, während in der sowjetische Besatzungszone die Uhren nach Moskauer Zeit tickten, was einen Unterschied von zwei Stunden zur Folge hatte. Zwischen 1950 und 1979 verzichtete die Bundesrepublik auf das Uhrendrehen und führte die Sommerzeit erst 1980 wieder ein.