Über zehn Jahre lang verteidigte Andrea Nahles eisenhart die Agenda-Politik der Sozialdemokraten. Nach rund zehn Monaten als Parteichefin ist Hartz IV nun für ihre Partei plötzlich Geschichte. Die auf der SPD-Vorstandsklausur angekündigte sozialpolitische Reform soll den Neuanfang signalisieren.
Ex-SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz ist momentan nicht so gut drauf, ist aus der Bundestagsfraktion zu hören. Dabei geht es ihm gesundheitlich gut, nein, er ist emotional erheblich verstimmt. Das gipfelte Ende Januar darin, dass er spontan frustriert den Plenarsaal verließ. Parteikollege und Arbeitsminister Hubertus Heil stellte gerade die Grundrente vor, da platzte Schulz offenbar innerlich der Kragen. Kein Wunder, vor beinahe genau zwei Jahren hatte er dieselbe Idee dem SPD-Parteivorstand vorgetragen. Und es war nicht der damalige Parteichef Sigmar Gabriel, sondern die damalige Arbeitsministerin Andrea Nahles, die ihn auflaufen ließ. Das Projekt „Respektrente" schob Nahles als nicht durchführbar zur Seite. Auch die von Schulz damals entfachte Hartz-IV-Debatte erstickte Nahles gleich wieder im Keim. Doch plötzlich sind seine damaligen Wunschthemen aktueller denn je. „Er würde vor lauter Wut am liebsten platzen", bringt es eine Parteifreundin auf den Punkt, „aber er taucht da lieber ab". Eines ehrt den ehemaligen SPD-Kurzzeit-Vorsitzenden: Er lehnt schon seit Wochen konsequent jegliche Interviews ab. Was sollte er auch sagen? Mit zweijähriger Verspätung fordert seine Partei jetzt, was er damals schon vorschlug. Er müsste über die Parteiführung unschöne Worte finden, wollte er glaubwürdig rüberkommen. Also sagt er lieber gar nichts. Politisch bleibt er loyal an der Seitenlinie, auch während der Vorstandsklausur der Sozialdemokraten.
Dort wurde ein bunter Strauß von sozialen Großtaten beschlossen: Grundrente für Geringverdiener, Grundsicherung für Kinder aus Hartz-IV-Haushalten, den Mindestlohn auf zwölf Euro erhöhen oder Verlängerung der Bezugsdauer von Arbeitslosengeld I für ältere Arbeitnehmer. Das sind die Schlüsselbegriffe, mit denen die SPD nun das Ruder im kommenden Wahlkampf auf europäischer und nationaler Ebene herumreißen will. Doch bei genauer Betrachtung machen diese Beschlüsse eher den Eindruck, es handelt sich um ein parteiinternes Reparaturprojekt für das Hartz-IV-Trauma. Aus Hartz IV soll zukünftig ein Bürgergeld werden. Für Arbeitnehmer wurde das neue sozialdemokratische noch ein bisschen aufgepeppt. Sie sollen zukünftig ein „Recht auf Home Office" haben. Was bei Bauarbeitern, Dachdeckern oder der Kassiererin zwar nicht besonders viel Sinn macht, dafür aber bei einer wachsenden Zahl von Dienstleistern.
Parteiinternes Reparaturprogramm
Dem scheinbar loyalen Abgeordneten Schulz dürften die Ideen im Grunde gefallen. Bei mindestens zweien seiner Mitstreiter kommt diesbezüglich allerdings nicht im Entferntesten der Eindruck von Loyalität in Zeiten des Neuaufbruchs auf. Ex-Kanzler Gerhard Schröder und Ex-Parteichef Sigmar Gabriel holzen in Interviews vors politische Schienbein der Parteiführung. Im Mittelpunkt ihrer Attacken: Parteichefin Andrea Nahles. Die beiden Niedersachsen sprachen ihr im Grunde jegliche Kompetenz zur Parteivorsitzenden ab und die Fähigkeit zur Kanzlerin gleich mit dazu. Das Bittere für Nahles: Niemand aus ihrem Umfeld kam auch nur ansatzweise auf die Idee, sich schützend vor sie zu stellen. Obendrein gab die SPD-Chefin in einem Interview zurück, das sie sich sehr wohl befähigt zur Kanzlerkandidatur sehe, weil sonst wäre sie „ja nicht Parteivorsitzende geworden". Nahles ergänzte zwar dann auch noch, dass sich aber „diese Frage derzeit gar nicht stellt". Doch damit war die Debatte endgültig in Schieflage geraten: Vor allem die bürgerlichen Medien fragten sich, wieso eine Partei mit Zustimmungswerten zwischen 14 und 16 Prozent derzeit überhaupt noch über eine Kanzlerkandidatur debattiert. Genau diesen Eindruck parteiinternen Zwists wollte die Parteiführung vermeiden. Jetzt vor der Europa- und der Landtagswahl in Bremen sollte mit den neuen Konzepten Aufbruch signalisiert werden. Wieder einmal.
Nicht nur im Parteivorstand fragen sich nun die Genossen: War das alles, was die Lenkungsgruppe „Zukunft der Arbeit" zu Wege gebracht hat? Offenbar ja, und das in Anbetracht einer digitalen Revolution, die den Arbeitsalltag der Menschen auf den Kopf stellen wird. Schon Anfang 2018 errechnete eine Studie der OECD, dass 66 Millionen Arbeitsplätze OECD-weit ein „hohes Risiko" aufweisen, automatisiert zu werden. Auch Deutschland steht vor einem gigantischen Strukturwandel, wie sich derzeit deutlich vor allem in der Automobilbranche zeigt. Die Folgen lassen sich sicherlich schwer überschauen. Doch wenn sich eine Partei die Fragen nach der Zukunft der Arbeit stellt, braucht sie ein paar zukunftsweisende Ideen, vor allem im Sinne sozialer Gerechtigkeit, für die die Partei wieder so verzweifelt stehen will.
Nicht, dass die CDU auf diese Fragen die besseren Antworten hätte. Doch die Christdemokraten verstehen es, in der öffentlichen Wahrnehmung geschickter in ihren Erneuerungsprozess einzusteigen.
Recht anschaulich zu beobachten war das beim Debattencamp der SPD Ende November. Eine Veranstaltung für Parteimitglieder und vor allem für Reporter. Die Genossen konnten sich ihren Frust von der Seele reden, die Parteiführung konnte das Camp als Schritt zur Erneuerung vermarkten. Auch FORUM berichtete. Die Außenwirkung aber war fatal: Die Partei ist unzufrieden mit sich, den Altlasten wie Hartz IV, den Umfragen und dem sie führenden Personal. „So geht es nicht weiter", war ständig zu hören. Doch was war seither passiert? Sind Erkenntnisse aus dem Debattencamp überhaupt in die vergangene Vorstandsklausur eingeflossen?
CDU beweist Geschick in ihrem Erneuerungsprozess
Bei den Christdemokraten gab es im vergangenen Jahr eine „Zuhörtour" der damals neu gewählten Generalssekretärin Annegret Kramp-Karrenbauer, der heutigen CDU-Chefin. Daraus sind nun Werkstattgespräche in der Parteiführung geworden, das allerdings hinter verschlossenen Türen. Kramp-Karrenbauer gibt den Takt vor, kurzes Statement vor der Presse, dann wird gearbeitet. Der Eindruck in der Öffentlichkeit: Die CDU weiß, was sie will und arbeitet konzentriert daran.
Und sie nimmt der SPD auch noch ihren vermeintlich letzten Regierungstrumpf ab: Die CDU-Chefin stellte im Rahmen der Werkstattgespräche klar, nach der Europawahl werde geprüft, ob die Weiterführung der Großen Koalition politisch noch Sinn macht. Das war eigentlich das größtmögliche Drohpotenzial, das die SPD eigentlich für sich reklamiert hatte. Danach erscheint es überflüssig, dass Sigmar Gabriel seinen Sozialdemokraten den Rat gibt, ein Ende der Großen Koalition zu überdenken. „Mein Gefühl ist, dass der Koalitionsvertrag nicht ausreichend auf die Herausforderungen von morgen ausgerichtet ist", so Gabriel. Genervt verdrehten die SPD-Genossen im Willy-Brandt-Haus die Augen. Dem Parteivorstand ist bei den aktuellen Umfragen klar, der Austritt aus der Regierung kommt „einem Selbstmord aus Angst vor dem Tod" gleich. Abgesehen davon, dass die SPD sich derzeit einen Wahlkampf eigentlich überhaupt nicht leisten kann. Die Mitarbeiter der SPD-Parteizentrale haben dies schon am eigenen Leib erfahren. Die traditionelle Gehaltserhöhung nach DGB-Abschluss ist für sie zunächst einmal ausgesetzt. Durch rückläufige Mitgliedsbeiträge und den Einbrüchen bei der Wahlkampfkostenrückerstattung ist die Lohnerhöhung momentan nicht zu machen, so Bundesgeschäftsführer Thorben Albrecht in einer Rundmail Anfang Februar. Damit bleibt es bei schlechten Voraussetzungen, sollte die Große Koalition vor Ende der Legislaturperiode enden. Sicher auch ein Grund für Martin Schulz‘ schlechte Laune.