Im deutschen Schwimmsport gibt es einen Führungswechsel. Statt eines Bundestrainers hat nun ein „Team Tokio" das Sagen, doch die heimlichen Chefs sind die Heimtrainer.
Es ist gerade mal ein halbes Jahr her, da war im deutschen Schwimmsport endlich die erhoffte Trendwende zum Guten zu erkennen. Bei den Europameisterschaften im vergangenen Sommer in Glasgow sorgten acht Medaillen, 33 Finaleinzüge und das höchst erfolgreiche Schwimmpaar Florian Wellbrock und Sarah Köhler für viel positive Aufmerksamkeit. Die Stimmung im Team war nach den vielen Rückschlägen und Machtkämpfen der Vergangenheit auffällig positiv. Doch dann kam es Schlag auf Schlag – und im Deutschen Schwimm-Verband (DSV) gibt es mal wieder einen kompletten Neuanfang.
Beim Verbandstag im Dezember in Bonn trat überraschend Präsidentin Gabi Dörries von ihrem Amt zurück, weil sie bei ihrer Forderung nach einer Beitragserhöhung von 60 Cent pro Mitglied von den Landesverbänden ausgebremst wurde. Ohne die große Fürsprache seiner „Freundin und Mentorin" sah Bundestrainer Henning Lambertz keine Rückendeckung mehr im Präsidium, um sich in den ständigen Machtkämpfen mit den Heimtrainern durchzusetzen. Lambertz warf ebenfalls das Handtuch, zumal seine Familie unter dem stressigen Job zuletzt stark gelitten hatte.
„Wenn die Kinder auf deinen Koffern sitzen und dich anbetteln: ,Bitte geh’ nicht!‘, dann ist das nur schwer zu ertragen", sagte Lambertz. Bei der „schwersten Entscheidung" seiner Karriere sei Dörries Rücktritt „das Zünglein an der Waage gewesen", gab der Wuppertaler zu. Denn mit dem neuen Leistungssportdirektor Thomas Kurschilgen lag Lambertz überhaupt nicht auf einer Wellenlänge. „Der neue Sportdirektor hat andere Ideen und Strategien, wie er mit dem Verband erfolgreich sein möchte", sagte Lambertz, der eine faktische Entmachtung befürchtete: „Ich denke, derjenige, der verantwortlich ist für das Abschneiden, sollte auch die Möglichkeit besitzen, die Entscheidungen zu treffen."
„Näher an die Weltspitze"
Also traf Lambertz mit dem Rücktritt eine letzte Entscheidung. Seit dem 1. Februar arbeitet er als Lehrer an der Friedrich-Bayer-Realschule in seiner Heimatstadt Wuppertal. Einen direkten Nachfolger gibt es nicht, den Job des Bundestrainers teilt sich ein Duo: Der Magdeburger Bernd Berkhahn führt die Nationalmannschaft als „Teamchef" bei allen internationalen Wettkämpfen und den wichtigen Trainingslagern, der Neckarsulmer Hannes Vitense verantwortet als „Teamcoach" die inhaltlich-methodische Planung des Olympia- und Perspektivkaders. Unterstützt werden die beiden von den Bundesstützpunkttrainern Nicole Endruschat in Essen und Veith Sieber in Hamburg, dem Team-Manager Christian Hirschmann sowie einigen externen Experten.
Das ganze Konstrukt bekam vom DSV den Namen „Team Tokio 2020" verpasst, mit dem der DSV bei Olympia „näher an die Weltspitze" rücken will, wie es Leistungssportdirektor Kurschilgen betonte. In der entsprechenden Pressemitteilung des DSV wurde gar von einer „High-Performance-Strategie" geschwärmt.
Kritiker behaupten jedoch, der neue Ansatz habe wenig mit Innovation zu tun. Denn die flache Hierarchie bedeutet am Ende, dass die tatsächliche Macht wieder bei den Heimtrainern landet, die sich davon schon unter Lambertz kaum trennen wollten. Alle wesentlichen Maßnahmen von Lambertz wurden vom Team Tokio 2020 als erste Amtshandlungen bereits einkassiert: die harten Qualifikations-Normen, die Zentralisierung von Topschwimmern, das Kraftkonzept.
„Anderthalb Jahre vor Olympia völlig neue Weichen zu stellen", sagte Ex-Bundestrainer Dirk Lange dem SID, „kann fatale Folgen haben." Vor allem, wenn man den Heimtrainer fast völlig freie Hand bei der Trainingsgestaltung lasse. „Salopp gesagt: Jeder kann machen, was er will", findet Lange. „Ob das ein moderner Weg ist, wird sich zeigen." Sein Weg wäre es nicht: „Es ist wie auf einem Schiff: Es muss einen Kapitän geben, der die Entscheidungen trifft." Die Entscheidungen, die Team Tokio bislang getroffen hat, zielten vor allem auf eins ab: den Heimtrainern mehr Freiheiten einzuräumen, damit ihre Schützlinge bei der Weltmeisterschaft im kommenden Juli im südkoreanischen Gwangju möglichst in Topform an den Start gehen. „Uns ist wichtig, dass die Trainer wieder kreativ und produktiv mit den Sportlern arbeiten und nicht darauf warten, dass von außen jemand sagt, was zu tun ist", erklärte Berkhahn der Zeitung „Die Welt".
„Jeder kann machen, was er will"
Das gilt auch für ihn selbst; in Europameister Wellbrock, der EM-Zweiten Köhler und Vizeweltmeisterin Franziska Hentke hat der Magdeburger Stützpunktleiter gleich drei Topschwimmer unter seiner Fittiche. Dass da viel Zeit für den Blick für das große Ganze bleibt, bezweifelt Lange: „Damit macht man sich nicht nur Freunde." Die meisten Schwimmer dürften die Neuerungen zunächst einmal begrüßen. Vor allem die deutlich abgeschwächten Normen werden dafür sorgen, dass mehr Athleten beim Saisonhöhepunkt starten können. So löste zum Beispiel Ex-Weltmeister Marco Koch, der die EM in Glasgow sportlich noch verpasst hatte, bereits in seinem ersten Rennen über 200 Meter Brust sein WM-Ticket. Allerdings mit einer Zeit (2:09,69 Minuten), mit der er im internationalen Vergleich keine Chance aufs Finale hat.
„Nicht die Norm ist entscheidend, sondern der Prozess", verteidigte Vitense die Maßnahme. Entscheidend sei, „beim Saisonhöhepunkt top abzuschneiden". Und die Vergangenheit hat mehrfach bewiesen, dass deutsche Schwimmer dazu meist nur einmal in einer Saison in der Lage sind. Außerdem wollen die Verantwortlichen mit den modifizierten Normen die Nachwuchsschwimmer bei der Stange halten. Zuletzt war der Übergang vom Jugend- in den Nationalbereich für viele Athleten eine unüberwindbare Hürde. Die Aussicht auf internationale Starts gab es kaum. Dass auf manchen Strecken eine Leistungsentwicklung erst ab einem gewissen Alter vonstattengeht, „das erkennen wir manchmal in Deutschland gar nicht und sortieren mitunter zu früh aus", sagte Vitense. Der Trainer aus Neckarsulm orientiert sich dabei stark an „intensiven Datenanalysen" aus Kanada, das neuerdings in der Spitze und Breite über ein großes Schwimm-Potenzial verfügt. Er schaue generell gerne „über den Tellerrand", verriet Vitense, „und habe nur ein Interesse: Weltspitze für Deutschland entwickeln." Von der Weltspitze war die einstige Schwimm-Großnation mit den Assen Britta Steffen, Franziska van Almsick oder Michael Groß bei den letzten beiden Olympischen Spielen aber meilenweit entfernt. Es gab jeweils null Medaillen, dafür aber viel Spott und – schlimmer noch – einen Einbruch beim Interesse an der Sportart.
Deshalb werden der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) und das Bundesinnenministerium (BMI) genau hinschauen, ob der neue Weg im DSV auch Erfolge bringt. Denn eine Flut von Vorlauf-Enttäuschungen, wie es sie bei Weltmeisterschaften in der Vergangenheit schon gab, dürfte der Verband gegenüber den Hauptgeldgebern nur schwer erklären können.
Teamcoach Vitense betont dennoch: „Da müssen wir das Risiko eingehen, dass der eine oder andere vielleicht im Vorlauf ausscheidet." Seine Hoffnung: „Manchmal geht so ein Stern bei Olympischen Spielen oder Weltmeisterschaften auf. Und diese Chance wollen wir unseren Athleten auch ermöglichen."
Ausreden gibt es nun kaum noch
„Teamchef" Berkhahn dämpft allerdings bereits die Erwartungen. Man werde bei Olympia „nicht 20 neue Schwimmstars an den Start bringen", sagte der Magdeburger. Es gehe vielmehr darum, „diese paar Schwimmer, die eventuell eine Medaille machen können, optimal vorzubereiten." Davon gibt es höchstens eine Handvoll Athleten, zu ihnen zählt auch Philip Heintz. Der EM-Zweite aus Heidelberg war bei der WM 2017 mit Ex-Bundestrainer Lambertz öffentlich aneinandergeraten, weil der ihm und seinem Heimcoach zu sehr in die Trainingsplanung eingegriffen haben soll. Diese Gefahr besteht nun nicht mehr. Doch so ganz begeistert klang Heintz nicht, als er den Führungswechsel mit den Worten kommentierte: „Wie es letztendlich wird, wird man in der Zukunft sehen."
Denn Fakt ist eins: Ausreden gibt es für die Athleten und ihre Heimtrainer nun kaum noch. Sollten sie beim Saisonhöhepunkt nicht ihre Bestleistung abrufen, lag es an ihnen und nicht an einem umstrittenen Kraftkonzept oder der harten Qualifikation. „Die Trainer können sich Unterstützung holen und uns jederzeit ansprechen, aber in erster Linie obliegt es ihnen, wie sie arbeiten und wie sie die Sportler vorbereiten", betont Berkhahn.
Bleibt die Frage: Wer hält am Ende den Kopf dafür hin, sollte der Plan nicht funktionieren? Bei der Nullrunde in Rio de Janeiro war es noch Ex-Bundestrainer Henning Lambertz, der danach mit deutlich verschärftem Ton und teilweise einschneidenden Maßnahmen eine Kurskorrektur auf den Weg brachte. Dieser Weg ist nun beendet, der deutsche Schwimmsport macht wieder einmal eine 180-Grad-Wendung.