Dr. Dieter Ehrhardt befasste sich sein gesamtes Berufsleben mit der Bevölkerungspolitik und Familienplanung in Entwicklungsländern. Er lebte viele Jahre während seiner Tätigkeit für das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) und den Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen (UNFPA) in Entwicklungsländern. Im Interview berichtet er von seinen Erfahrungen.
Herr Dr. Ehrhardt, Sie verbrachten als Entwicklungsexperte einige Jahre in der Karibik. Man hat diese Region nicht so als Problemzone in Sachen Überbevölkerung auf dem Schirm. Welche Erfahrungen haben Sie gemacht?
Als ich 1975 dort hinkam, hatte jede Frau im Schnitt vier Kinder. Es war den Kariben aber gelungen, diese Belastung zu senken, etwa durch Auswanderung in die USA. Es gibt die University of the West Indies für die 17 englischsprachigen Inseln. Deren medizinische Fakultät ist in Jamaika. Der Ordinarius für Gynäkologie dort, Professor Hugh Wynter MD O.J., wollte dringend ein Familienplanungsprojekt. Weil er mir fähig und zuverlässig erschien, wurde er zum ersten einheimischen Projektleiter auf diesem Gebiet. 80 Prozent dieses Projekts zahlte das BMZ, 20 Prozent UNFPA. Für das BMZ wurde dies das erfolgreichste Familienplanungsprojekt überhaupt.
Wie gelang das Professor Wynter?
Es stellte sich heraus, dass die karibischen Krankenschwestern, die beruflich einen besonders guten Ruf für Frauenberatung in Familienplanungsfragen hatten, im Downstate Medical Centre in New York geschult waren. So entstand die Frage: Könnte man die New Yorker Qualität nicht auch in Kingston schaffen?
Konnte man?
Man konnte. Es gab dann ein „Training für Trainer"-Projekt und solche für Familienplanungs-Kommunikations- und Motivationsmethoden. In den 20 Jahren Laufzeit des Projekts mit einer Million Dollar pro Jahr wurden 5.000 Kariben auf den erforderlichen Ebenen zu Familienplanern ausgebildet. Die Geburtszahlen pro Frau sanken von vier auf 1,7.
Das klingt nach einem sehr guten Wert.
2,1 Kinder pro Frau ist die wichtigste Marke. Sie bedeutet den Bestandserhalt der Bevölkerung im Land. Wir haben in Deutschland 1,5. In der Karibik sagt man, der Erfolg ist zu 80 Prozent diesem einen Projekt zuzuschreiben.
In Deutschland geht die Zahl der Bevölkerung also zurück, während sie in Entwicklungsländern stark ansteigt. Führt diese Diskrepanz des Wachstums zu Problemen?
Es gibt einen amerikanischen Professor namens Stephen Smith. Er schrieb neulich ein viel beachtetes Buch, in dem er voraussagt, dass bis zum Jahr 2050 150 bis 200 Millionen Afrikaner nach Europa kommen werden. Man geht heute davon aus, dass sich die Bevölkerung Afrikas von 1,3 Milliarden bis zum Jahr 2050 auf 2,3 Milliarden vermehren wird. Ein kritischer französischer Migrationsforscher namens Francois Héran sagt voraus, dass es anstatt 150 bis 200 Millionen vier Prozent mehr für Europa sein werden. Wenn Sie das auf Deutschland beziehen, landen Sie bis zum Jahr 2050 bei 3,2 Millionen.
Ist das eine alarmierende Zahl?
Natürlich – schon wegen der Kosten. Die eine Million Syrer unterhalten wir pro Jahr mit 40 Milliarden Euro bei einem Bundeshaushalt von 357 Milliarden Euro. Der nächste Punkt ist der: Wenn Sie die öffentliche Diskussion verfolgen, schreit alle Welt, viel fürs Klima zu tun. Dieses Interview zeigt die herausragende Qualität des FORUMs. Denn Sie sind mit Ihrem Interview einer der ganz wenigen Pioniere, die auf die zweite, noch wichtigere Hälfte der Gefahren für die Menschheit aufmerksam machen, nämlich die galoppierende Weltbevölkerungsexplosion. Irgendjemand scheint die Gefahren zu einem Tabu erhoben zu haben. Man hat die Klimafrage so ernst genommen, dass man einen Weltklimarat geschaffen hat. Doch 60 Prozent des Problems für unsere Nachkommen macht die Bevölkerungsexplosion aus. Wenn die Nahrung um das Jahr 2100 so knapp geworden sein wird, dass sich viele vom Fleisch des Nachbarn ernähren werden − früher nannte man das Kannibalismus −, wird niemand fragen, ob das bei 25 oder 35 Grad Celsius geschieht. Wo bleibt da die Gründung des „Weltbevölkerungsrats" oder, noch präziser, des „Weltfamilienplanungsrats"?
Oft hört man, Bildung sei der Schlüssel, um die zu hohen Geburtenraten in Entwicklungsländern in den Griff zu bekommen. Sehen Sie das genauso?
Nein. Wer das propagiert, will Familienplanung verhindern. Es gibt kein einziges erfolgreiches Familienplanungsprojekt, dessen Ergebnis durch vorhergehende Bildungsprojekte zustande gekommen ist. Es ging neulich so weit, dass jemand propagierte, Bildung von Mädchen sei das beste Kontrazeptivum. Das ist eine beabsichtigte Böswilligkeit, um Familienplanung zu verhindern. Sie können sich vorstellen, wo das seinen
Ursprung genommen hat.
Sagen Sie es mir!
Im Vatikan. Die Kirche war ja immer schon gegen künstliche Verhütung. Es überrascht nicht, dass ein früher deutscher Entwicklungsminister von einem hohen Beamten seines Hauses, der bekannt war als aktiver Katholik, dem Minister beibrachte, dass Bildungsmaßnahmen für Frauen lange Zeit durchgeführt werden müssen, bevor man an die Finanzierung von Familienplanung denken darf.
Das Problem gab es aber nicht nur in Deutschland?
US-Präsident Gerald Ford nutzte das Ergebnis einer Studie, die noch Nixon hatte durchführen lassen: „Kann die Fortsetzung der Weltbevölkerungsexplosion dazu führen, dass amerikanische Sicherheitsinteressen betroffen werden?" Das Ergebnis der Studie waren drei englische Buchstaben: Yes.
Auf dieser Grundlage setzte Präsident Ford noch im Jahr 1975 als amerikanische Politik in Kraft, dass „die Zwei-Kind-Familie in Entwicklungsländern bis zum Jahr 2000 erreicht werden soll und dass die amerikanische Regierung alle anfallenden Kosten übernehmen würde." Daraufhin schickte Kardinal Karol Wojtyla, der spätere Papst Johannes Paul II, die amerikanischen Bischöfe zu Ford.
Mit welchem Ziel?
Die Bischöfe verlangten von Präsident Ford, die besagte Zwei-Kind-Politik nicht umzusetzen und er gehorchte. Danach verbot Wojtyla allen Geberregierungen, Familienplanungsprogramme in nennenswertem Umfang zu finanzieren. Und wieder gehorchten alle.
Weshalb hatte er so viel Einfluss?
Es war wohl einer der üblichen Fälle: In der Politik gewinnt immer der, der die größte Energie aufbringt und auf Gegner trifft, die sich das gefallen lassen.
Wie sieht es mit dem Verhütungsverbot der Kirche aus. Ist das ein großes Problem?
Der heutige Papst Franziskus hat nach einem Jahr im Amt einen Fragebogen an alle Bischöfe der Welt geschickt mit der Frage, wie viel Prozent ihrer Gläubigen verhüten und damit gegen kirchliches Gebot verstoßen. Das Ergebnis: 90 Prozent der Katholiken verhüten. Es gibt 1,3 Milliarden Katholiken. Es bleiben also 130 Millionen, die nicht verhüten. Wenn Sie die in Beziehung setzen zur Weltbevölkerung von acht Milliarden Menschen, dann ist deren Reproduktionsverhalten für die Bevölkerungsexplosion unerheblich. Das Problem ist also nicht das Verhütungsverbot, sondern das Verbot der Finanzierung von Familienplanungsprojekten.
Lassen Sie uns auf Afrika blicken. Es gab auf Drängen der Kirche also weniger Geld in der Entwicklungshilfe für die Familienplanung. Wie war das, als Sie dann dorthin kamen?
Das war für mich eine völlig neue Welt. Es ist so: Erfolg setzt voraus, dass die einheimische politische Führung das Erfordernis von Familienplanungsprojekten für ihr Land erkannt haben muss. Ohne diese Erkenntnis hilft gar nichts. Als ich nach Kenia kam, hätte der Schock nicht größer sein können.
Was war passiert?
Zum Vergleich: An meinem dritten Bürotag in Jamaika kam ein Anruf von Professor Wynter mit einer Einladung zum Mittagessen. Da haben wir uns kennengelernt und schon konkret über das Projekt gesprochen. Auch in Nairobi gibt es eine Universität. Den dortigen Ordinarius für Gynäkologie habe ich in vier Jahren nicht zu Gesicht bekommen.
Hat das auch mit dem Druck der Kirche zu tun?
Nein, das ist einfach Desinteresse. Diese Leute machen sich keine Sorgen um die überbordende Bevölkerung in ihrem Land. Was kümmert die gehobene Klasse, ob die Bauernkinder verhungern oder nicht? Die Kirche hat nichts mit der Motivation der Professoren zu tun.
Pure Ignoranz also.
Gemischt mit Desinteresse, so würde ich das sehen. Die entscheidenden Leute sind wie in jedem Land die Politiker. Häuptlinge waren in vielen Regionen Afrikas lange Zeit die unbegrenzten Herrscher. Das hat sich auf die Politiker übertragen. Wenn es denen gut geht, sind sie zufrieden. Zu meiner Zeit in Kenia hatte ein Minister im Keller seiner Villa 20 Verschläge, in denen 20 Frauen vegetierten. Am Abend hat er einen Diener geschickt: „Hol’ mir heute mal die Nummer 15." So lief das. Das sind korrupte, desinteressierte Systeme.
Wenn es um die Schaffung von Arbeitsplätzen geht, kommt hinzu, dass zwar genügend Menschen zur Verfügung stehen, aber die meisten können weder lesen noch schreiben.
Kann man nichts dagegen tun?
Man muss mit den politischen Entscheidern Vier-Augen-Gespräche führen und herausfinden, wieweit die örtlichen Regierungen damit einverstanden sind, dass Verhütungsmittel kostenlos in den dörflichen Gesundheitszentren vorrätig werden. Laut einer UNFPA-Erhebung wollten schon um 1980 300 Millionen Paare in der Dritten Welt verhüten, konnten aber nicht, weil sie kein Geld hatten.
Dass dieser Bedarf seit 1980 nicht gedeckt wurde, ist das größte Verbrechen im Rahmen aller Familienplanung. Ein anderer Punkt wäre die Fortbildung der Krankenschwestern und Hebammen, auch in den ländlichen Gebieten, um Frauen die Vor- und Nachteile der einzelnen Verhütungsmittel zu erläutern.
Also doch Bildung?
Das ist Gesundheitserziehung und -aufklärung.
Was wäre Bildung?
Die Formung des Menschen durch die Verarbeitung des Wissens, das an Volksschulen, Gymnasien und Universitäten angeboten wird, unter Einbeziehung der örtlichen kulturellen Verhältnisse.
Ihrer Meinung nach muss man also mit den jeweiligen Regierungen sprechen. Aber haben die daran Interesse?
Ob und wie viel Interesse besteht oder sich doch erzeugen lässt, kann man nur durch entsprechende Gespräche herausfinden. Im Idealfall folgt daraus ein landesweites Programm, das die Regierung durchführt. Die äußerst seltene Alternative ist der Glücksfall, dass eine Person im Land über genügend Energie und Fähigkeit verfügt, den großen Wandel zur Zwei-Kind-Familie allein zu schaffen. Ich kenne nur zwei Fälle, in denen das gelang: In Thailand hat ein Politiker namens Viravaidya Mechai schon in den 70er-Jahren gesagt: „Kondome, Kondome Kondome!!!" Solange, bis er den Spitznamen „Mr. Condom" bekam. Mit seinem Programm schaffte er es, die Geburtenzahl pro Frau von sieben auf 1,5 zu drücken. Für die Karibik hat es Professor Hugh Wynter mit seinem großen Projekt geschafft. Ansonsten geht es nur in Zusammenarbeit mit den Regierungen.