Bevölkerungsprognosen sind von vielen Faktoren abhängig. Oft sind sie interessengeleitet, von der Angst vorm Crash der Sozialsysteme bis zum Für und Wider von Migration.
Die Bevölkerungswissenschaftler haben jahrelang vorausgesagt: Deutschland wird schrumpfen und vergreisen. Noch bis vor ein paar Jahren warnten sie davor, dass die Deutschen immer weniger werden, so Robert Egeler, der damalige Präsident des Statistischen Bundesamtes, im Jahre 2015: „Die Zahl der Menschen im erwerbstätigen Alter wird stark schrumpfen." 2060 seien es ein Drittel weniger als 2013.
Herwig Birg, emeritierter Bevölkerungswissenschaftler an der Uni Bielefeld und unermüdlicher Warner, beschwor 2006 die Folgen der ausbleibenden Geburten: „Die Nichtgeborenen der letzten 30 Jahre fehlen jetzt als Eltern, sie können beim besten Willen keine Kinder haben. Folglich schrumpft die Bevölkerung. Auch wenn die Geburtenrate nicht weiter sinkt, muss die Bevölkerung mit mathematischer Sicherheit schrumpfen, weiter abnehmen, denn das tut sie seit 1972. Schrumpfung ist für mindestens fünf Jahrzehnte unvermeidlich." An alledem werde auch eine steigende Geburtenrate nichts ändern. Denn der Alterungsprozess werde vor allem von den geburtenstarken Jahrgängen 1955 bis 1969 – die sogenannten Babyboomer – vorangetrieben. Wenn die in Rente gehen, wächst der Anteil der Alten überproportional.
Überproportional viele Ältere
Doch nach jahrelanger Schwarzmalerei kamen die Institute 2017 mit einem ganz neuen Trend heraus. „Schrumpfen war gestern" hieß es in einer Pressemitteilung des Instituts der deutschen Wirtschaft. Dr. Reiner Klingholz, Leiter des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung bestätigte diesen Trend: „Für die Auffassung, dass das Schrumpfen vorbei ist, sprechen zwei Gründe. Erstens sind die Kinderzahlen in Deutschland wieder gestiegen, aber nur sehr leicht, das bringt relativ wenig. Wesentlich wichtiger ist, dass die Zuwanderung seit zwei, drei Jahren massiv gestiegen ist. Die lag jahrelang so im Schnitt nur bei 200.000 pro Jahr. 2015 und 2016 sind aber insgesamt zwei Millionen Menschen nach Deutschland gekommen. Und deswegen haben wir jetzt andere Aussichten." Die Rekordzuwanderung des Jahres 2015 und steigende Geburtenzahlen hellen also die einst düsteren Demografie-Aussichten auf. Das Institut der deutschen Wirtschaft in Köln schätzt, dass die Einwohnerzahl bis 2021 sogar auf einen neuen Höchststand von 83,9 Millionen Einwohnern steigen wird. Das Statistische Bundesamt geht ebenfalls von einer steigenden Bevölkerungszahl aus. Bis 2035 werde sie aber bis auf das derzeitige Niveau sinken. Im Jahr 2060 soll sie dann bei 76,5 Millionen liegen. 82,5 Millionen sind es heute – es wäre also noch Platz. Nahmen wir also die auf, die woanders zu viele sind? Wäre das ein Ausweg?
Was ist an den Prognosen dran? Die demografische Entwicklung hängt von drei Faktoren ab: Geburtenrate, Sterberate und Migration. Wer bei den drei Faktoren bleibt, wird Prognosen erstellen können, die sich relativ plausibel anhören. Doch so einfach ist es nicht. Dazu kommen eine Reihe anderer Faktoren: die technologische Entwicklung, politische Entscheidungen, die wirtschaftliche Entwicklung.
Betrachten wir die neueste Prognose des Instituts für Arbeitsmarkt und Berufsforschung (IAB) im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung. Sie geht von der Prämisse aus, dass das Arbeitskräfteangebot nicht unter „ein für die Wirtschaft verträgliches Maß" sinken dürfe. Damit hätte Deutschland bis 2060 einen jährlichen Einwanderungsbedarf von mindestens 260.000 Menschen. Nur so ließe sich der demografiebedingte Rückgang des Arbeitskräfteangebots begrenzen.
Aus den bisherigen Zu- und Abwanderungszahlen geht nach Darstellung der Bertelsmann-Studie hervor, dass Deutschland bis ins Jahr 2060 mit jährlich 114.000 Zuwanderern aus anderen EU-Staaten rechnen kann. Die Zahl – so die Autoren der Studie – könnte durch die Wirkung des Brexits kurzfristig steigen, aber nicht auf Dauer. Demnach würden also rund 146.000 Personen aus Drittstaaten außerhalb der EU einwandern müssen.
Die Studie berücksichtigt auch die Potenziale der einheimischen Bevölkerung. Die Forscher unterstellen eine zukünftig höhere Geburtenrate sowie mehr Frauen und ältere Menschen auf dem Arbeitsmarkt. Doch selbst wenn Männer und Frauen gleich viel arbeiten würden und man in Deutschland eine Rente mit 70 einführen würde, könnte der Fachkräftebedarf nicht mit inländischen Mitteln gedeckt werden. Jörg Dräger, Vorstand der Bertelsmann-Stiftung, hebt hervor: „Migration ist ein zentraler Schlüssel zu einer gelingenden Zukunft. Deutschland braucht Fachkräfte – auch aus Regionen außerhalb Europas."
Migration ist also nicht gleich Migration – neben der Demografie spielt die technologische Entwicklung eine entscheidende Rolle. Denn die Digitalisierung des Arbeitsmarktes macht es erforderlich, dass vor allem Techniker, Informatiker, Meisterinnen einwandern. Engpässe, so die Studie, ergäben sich gerade auf dem mittleren und höheren Qualifikationsniveau. Für die Einwanderungspolitik bedeutet das, dass gezielt Fachkräfte angesprochen werden müssen, statt Menschen ohne Qualifikation, die man erst mit hohen Kosten in Sprachkurse und eine Ausbildung stecken müsste.
Doch woher nehmen? Einerseits konkurrieren alle EU-Länder miteinander um qualifizierte Einwanderer, sei es aus dem Nachbarstaat oder außerhalb Europas, etwa aus Afrika. Andererseits birgt gerade die Abwerbung gut qualifizierter Menschen aus wenig entwickelten Ländern die Gefahr, dass die Wirtschaft dort stagniert und die Verelendung wächst. Heute bereits existieren für einzelne Branchen bereits besondere Einschränkungen, wie der freiwillige WHO-Verhaltenskodex zur internationalen Rekrutierung von Gesundheitspersonal. Je stärker der Braindrain in die Industriestaaten ist, desto weniger Chancen hat ein Entwicklungsland, Anschluss an den internationalen Wettbewerb zu finden.
Auch politische Entscheidungen prägen die Bevölkerungsentwicklung entscheidend mit. Ein Rechtsruck in Deutschland verbunden mit zunehmender Fremdenfeindlichkeit würde die Einwanderung deutlich reduzieren. Umgekehrt könnte ein neuer Krieg im Nahen Osten zwischen Israel und Irak die Flüchtlingszahlen drastisch ansteigen lassen.
Qualifizierte Einwanderer fehlen
Und nicht zuletzt prägt die wirtschaftliche Entwicklung die demografische Zukunft. In Deutschland wird künftig – da sind sich die Bevölkerungswissenschaftler einig – eine größere Zahl alter und hochaltriger Menschen leben, die versorgt, gepflegt, untergebracht und medizinisch betreut werden müssen. Wir erleben gerade, dass sich die Parteien darum streiten, wie das finanziert werden soll. Gelingt es, genug Pflegekräfte zu finden und zu bezahlen? Wie soll die ältere Generation vor Altersarmut bewahrt werden? Können, ja wollen die Jungen die zunehmenden Lasten schultern?
Fazit: Prognosen sind schwierig, weil sie die Zukunft betreffen. Wie konnte Adenauer 1960 ahnen, wie die Bundesrepublik 50 Jahre später aussehen würde? Wer konnte 1985 vorhersehen, dass die Mauer fällt, der Jugoslawienkrieg Hunderttausende Menschen nach Deutschland fliehen lässt, Computer und Handys unseren Alltag bestimmen und Flugreisen so preiswert wie eine Busfahrt sind? Soll man es also ganz sein lassen, die Zukunft vorauszuberechnen?
Erstens muss man sich klarmachen, dass hinter jeder Prognose Interessen stehen. Der Wirtschaft geht es um den Fachkräftemangel. Die Sozialpolitiker haben den Kollaps der Sozialsysteme im Blick. Parteien warnen vor „Überfremdung" oder – umgekehrt – reden einer offenen Einwanderungspolitik das Wort. Zweitens kann es sich ein ganzes Land nicht leisten, wie im Nebel nur auf Sicht zu fahren. Wer die Konturen einer möglichen künftigen Entwicklung nicht beachtet, kann keine mittel- und langfristigen Entscheidungen treffen. Sicher kann sich niemand auf alles vorbereiten, doch es wäre naiv, globale Trends nicht zu erkennen.
Der demografische Wandel beschäftigt die Wissenschaft seit 200 Jahren, seit Malthus’ Bevölkerungstheorie, wonach das Nahrungsangebot mit dem Bevölkerungswachstum nicht Schritt hält. Die Entwicklung – die Entdeckung des Stickstoff-Düngers – hat dies widerlegt. Auch heute werden Wachstumskurven unhinterfragt in die Zukunft verlängert. Die Vergangenheit lehrt uns, dass es immer wieder anders kommen kann.