Die Bevölkerung wächst so schnell wie nie. Ob eine Migrationswelle die Folge sein wird, lässt sich nur vermuten. Wenn in Afrika nicht eine rasante wirtschaftliche Entwicklung einsetzt, könnten bis zu 20 Millionen Afrikaner jährlich in den nächsten Jahrzehnten Europa anvisieren. Auch der Migrationspakt würde daran nichts ändern.
Die Flüchtlingskrise in Europa ab 2015 hat viele Emotionen hervorgerufen und die Bevölkerung nicht nur hierzulande herausgefordert, teilweise sogar gespalten. Ein bekannter Satz der Kanzlerin wurde vielfach als Provokation ausgelegt und rief Rechtspopulisten auf den Plan. Ob dies als Vorspiel auf das viel größere Problem der Migration angesehen werden kann, die Europa in den nächsten Dekaden erleben könnte, darüber kann man Stand jetzt nur spekulieren. Rund 1,3 Millionen Flüchtlinge kamen in den Jahren 2015 und 2016 vor allem aus Syrien hier an – das sind wenige im Vergleich zu den Abermillionen Menschen, die sich weltweit auf der Suche nach einem besseren Ort zum Leben auf den Weg machen könnten und ihr Heimatland daher verlassen. Aktuelle Zahlen der Vereinten Nationen gehen von 250 Millionen Menschen aus. Das entspricht derzeit etwa drei Prozent der Weltbevölkerung. Vor allem eine Migrationswelle aus Afrika wird prognostiziert, die die vergangene weit übertreffen wird. Experten, beispielsweise von Amnesty International, gehen für die kommenden Jahrzehnte von bis zu 20 Millionen afrikanischer Migranten aus ‒ nicht einmalig, sondern pro Jahr.
MIgration am liebsten in die USA
Mit drastischeren Zahlen wartete eine im Dezember 2018 veröffentlichte Studie des amerikanischen Meinungsforschungsinstituts Gallup auf. Der Zeitpunkt war mit Bedacht gewählt, wurde doch gerade der UN-Migrationspakt verabschiedet. Das Ergebnis einer zwischen 2015 und 2017 durchgeführten Befragung von 450.000 Menschen in 152 Ländern ergab, dass 750 Millionen Menschen oder 15 Prozent der Erwachsenen migrieren, sprich in ein anderes Land auswandern würden, wenn sie könnten. Die Zahlen sind mit Vorsicht zu bewerten. Dennoch ist auffällig, wo die Schwerpunkte der Auswanderungswilligkeit liegen: Am schwächsten mit gerade mal sieben bis acht Prozent ist demnach das Interesse an einer Migration bei Asiaten ausgeprägt, schon höher ist der Wert bei Menschen aus dem Nahen Osten und aus Nordafrika mit 24 Prozent. Mit Abstand am stärksten dokumentiert sich der Migrationswille mit 33 Prozent bei Menschen aus afrikanischen Ländern südlich der Sahara, sprich aus jenen 49 Staaten, die heute als „Subsahara-Afrika" bezeichnet werden. Auf Platz zwei folgen Bürger aus Lateinamerika mit 27 Prozent. In manchen afrikanischen Ländern wie Sierra Leone (71 Prozent) oder Liberia (66 Prozent) würde am liebsten fast die gesamte Bevölkerung ihre Heimat verlassen. Vergleichbar hohe Zahlen gibt es nur noch in Haiti oder Albanien.
Entgegen landläufiger Meinungen, die in der Bundesrepublik hauptsächlich von der AfD vertreten werden, hat die Mehrzahl der Migrationswilligen keineswegs Deutschland als Wunschdomizil auserkoren. Die USA sind mit 21 Prozent das beliebteste Einwanderungsland, gefolgt von Kanada mit sechs Prozent, erst knapp dahinter folgt die Bundesrepublik vor Frankreich und Australien. Angesichts solcher Zahlen wird sich Angela Merkel ihren Spruch „Wir schaffen das" nun sicherlich verkneifen. Wie überhaupt aus der internationalen Politiker-Top-Riege so gut wie niemand wagt, eine der grundlegenden Ursachen für den dramatisch wachsenden Migrationsdruck anzusprechen. Eine Ausnahme macht da nur Emmanuel Macron. Der französische Staatspräsident scheut sich nicht, das heiße Eisen namens Überbevölkerung anzusprechen. Und er prognostiziert, dass sich aus Afrika und dem Nahen Osten künftig nicht weniger, sondern deutlich mehr Menschen auf den Weg gen Europa machen werden. Er sieht vor allem das exorbitante Bevölkerungswachstum in vielen afrikanischen Ländern als das absolut zentrale Problem an. Natürlich ist ihm bewusst, dass noch eine ganze Reihe weiterer Faktoren wie Armut, Klimawandel, Korruption oder Bürgerkriege eine wichtige Rolle spielen. Aber es gebe nun mal, so Macron in einem TV-Interview im Frühjahr 2018, „eine afrikanische Demografie, die da ist und die ‒ man muss es auch sagen ‒ eine wirkliche Bombe ist." Und die sich mit dem von CSU-Innenminister Horst Seehofer initiierten und vor allem gegen illegale Migranten gerichteten deutschen Migrationspakt samt seinen Ankerzentren, Transitverfahren, verschärften Grenzschutz und Sanktionen oder schnelleren Gerichtsverfahren garantiert nicht entschärfen lassen wird.
Das hat längst auch Seehofers Parteikollege Gerd Müller in seiner Funktion als Entwicklungshilfeminister eingesehen: „Der afrikanische Kontinent wird sich bis 2050 bevölkerungsmäßig verdoppeln. Jedes Jahr sind 20 Millionen neue Arbeitsplätze notwendig. Schafft der Kontinent das nicht mit unserer Hilfe, werden sich Millionen aufmachen, eine neue Völkerwanderung in Richtung Europa in Gang zu setzen." Der Vergleich mit der zahlenmäßig überschaubaren spätantiken Völkerwanderung mutet zwar grotesk an. Aber aus den Worten des CSU-Politikers kann man durchaus ableiten, dass die europäischen Länder Gelder in gigantischen Dimensionen, womöglich mindestens vergleichbar mit dem Wiederaufbau der neuen Bundesländer, in die Hand nehmen müssten, um die Afrikaner zum Verbleib in ihrer Heimat zu bewegen. Es ist mehr als fraglich, ob sich Investitionen solchen Ausmaßes den Bürgern Europas vermitteln lassen werden. Und selbst dann wäre das Wohlstandsgefälle zwischen Afrika und Europa noch so groß, dass der alte Kontinent noch immer ein Anziehungsmagnet bleiben würde.
Afrika erlebt derzeit das rasanteste Bevölkerungswachstum aller Zeiten. Allein im kommenden Jahrzehnt wird die Bevölkerungszahl dort um 200 Millionen Menschen zulegen. Laut Angaben der Deutschen Stiftung Weltbevölkerung wird sich die Bevölkerungszahl bis 2050 in Subsahara-Afrika verdoppeln auf dann 2,2 Milliarden Menschen. Neun Subsahara-Staaten werden ihre Bevölkerung bis 2050 verfünffachen. Die größte Wachstumsdynamik wird Nigeria zugesprochen, dessen Bevölkerung laut Amnesty International bis 2050 auf knapp 400 Millionen ansteigen könnte. Und wenn es unverändert so weitergeht, wird Nigeria bis zum Ende des 21. Jahrhunderts diese Zahl nochmals verdoppeln und dadurch auf der Liste der bevölkerungsreichsten Länder der Erde Rang fünf erreichen. Da auch in Ländern wie Tansania, Uganda, Kongo, Kenia und Äthiopien ein rasantes Bevölkerungswachstum zu verzeichnen ist, geht die UN davon aus, dass Mitte des 21. Jahrhunderts allein sechs afrikanische Staaten unter den globalen Top 20 in der Kategorie Bevölkerungsgröße auftauchen werden.
Migranten nicht gleich Flüchtlinge
Da sich das Bevölkerungswachstum zu einem weltweiten Jahrhundertproblem auszuwachsen droht, hat die UN die Initiative an sich gerissen und im Dezember 2018 in Marokko den UN-Migrationspakt verabschieden lassen. Das globale Abkommen soll dafür sorgen, dass Migration künftig sicher und geordnet vonstattengehen kann. Es ist die erste internationale Vereinbarung für den Umgang mit weltweiten Migrationsbewegungen. Für Kriegsflüchtlinge und politisch Verfolgte gibt es längst die Genfer Flüchtlingskonvention und das UN-Flüchtlingshilfswerk, die gewisse Grundrechte sicherstellen können. Für Migranten, also für solche Menschen, die mehr oder weniger freiwillig ihre Heimat zugunsten besserer Lebensbedingungen andernorts verlassen möchten, gab es bislang noch keinerlei allgemeingültige Absprachen.
Der neue globale UN-Migrationspakt soll diese Lücke füllen, wofür er auf 32 Seiten 23 Zielvorgaben enthält, um die Migrationsströme in besser gelenkte legale und geordnete Bahnen führen zu können. Er ist rechtlich nicht verbindlich und stellt nur so etwas wie einen allgemeinen Kooperationsrahmen oder eine mehr oder weniger vage politische Absichtserklärung dar.
Die Entscheidungsfreiheit der Einzelstaaten bezüglich einer nationalen Migrationspolitik wird daher nicht eingeschränkt. Dennoch haben nicht alle 193 UN-Mitglieder der Vereinbarung zugestimmt. Zu den prominentesten Nein-Sagern zählen die USA, Australien und auch Österreich. Womöglich aus der Überlegung heraus, dass sich die Bestimmungen des Pakts in absehbarer Zeit zu einer Art Gewohnheitsrecht auswachsen könnten. Migration künftig als „positives globales Phänomen" anzuerkennen, wie es UN-Generalsekretär Antonio Guterres beschworen hatte, dürfte vielen Staaten und Weltbürgern ziemlich schwerfallen.
Dennoch wird man vor der speziell auch durch die Bevölkerungsexplosion verursachten Migration nicht mehr einfach die Augen verschließen können, sie ist Realität, die sich nicht mehr durch einfache Grenzschließungen und einige Milliarden Euro Entwicklungshilfe rückgängig machen lässt.