Die SPD versucht mühsam, sich aus dem Stimmungstief zu kämpfen – bislang ohne größeren Erfolg. Kann die Linke diese historische Schwäche nicht nutzen? Mitglieder der Linken äußern vor dem Parteitag in Bonn ihre Meinung dazu.
Gabi Beug (66), ehemals Chefstewardess der Lufthansa aus Frankfurt am Main, Hessen:
Ich glaube, die Linke ist mit der SPD zusammen von den Wählern in Sippenhaft genommen worden, denn jahrelang haben die Sozialdemokraten mit uns die Zusammenarbeit verweigert. Sie dürfen doch eines nicht vergessen: 2013 hatten wir mit Rot-Rot-Grün im Bundestag die Mehrheit, wir hätten regieren können. Doch was haben die Sozen gemacht? Große Koalition. Dafür sind sie zu Recht abgestürzt. Aber die Wähler haben uns Sozialisten gleich mit abgestraft, was ich in Teilen ja auch verstehe, wer wählt schon gern Opposition. Denn das heißt ja, dass sich am Regierungsstil zukünftig nicht viel verändert. Also, ich sehe das wirklich so, wir von der Linken müssen nun die Verweigerungshaltung der SPD gleich mit ausbaden.
Olaf Gramstedt (57), Lehrer an einer Oberschule in Oberhausen, Nordrhein-Westfalen:
Die ganze These ist mittlerweile überholt: Wenn die SPD schwach ist, dann muss die Linke automatisch stark sein. Das war mal in den 70er-, 80er- und noch 90er-Jahren so, aber die Zeiten des ideologischen Klassenbewusstseins sind endgültig vorbei. Es gibt das klassische Arbeitermilieu nicht mehr, unsere Gesellschaft wurde durch die Agenda-Politik der SPD mehrfach geteilt. Sie haben die Klasse der Tariflohn-Arbeiter, die heute im Bereich der Werktätigen die soziale Oberschicht darstellen. Dann haben Sie eine Armada von Mindest- oder Niedriglohn-Beschäftigten im sogenannten Dienstleistungssektor. Die brauchen schon zwei oder drei Jobs, um überhaupt leben zu können. Und dann kommt die Masse der Aufstocker. Also Menschen mit einem Job, die mit Hartz IV aufstocken müssen, weil sie sonst nicht klarkommen. Und dann kommt die Klasse der Menschen, die ausschließlich von staatlichen Transferleistungen lebt, weil sie beruflich einfach nicht mehr gebraucht wird oder alleinerziehend ist. Bei so einer Gemengelage kommt kein Klassenbewusstsein auf, da sind nicht wenige Wähler von uns drunter, die nun aus Frust die AfD wählen.
Ursula Marek (81), früher SED-Bezirksleiterin aus Schwerin, Mecklenburg-Vorpommern:
Gerade in Deutschland gibt es einen sehr starken Antikommunismus, dafür haben ja nach dem Krieg schon die Amerikaner gesorgt. Dann haben wir es als Linke mit einem Medienkartell zu tun, das kein gutes Haar an uns lässt. Vernünftige Vorschläge werden verschwiegen, jeder kleine Streit sofort aufgeblasen. Und da war es dann natürlich in den vergangenen Monaten fatal, dass sich Sarah Wagenknecht und Katja Kipping so einen öffentlichen Disput erlaubt haben. Vor allem war es wenig hilfreich, dass unsere beiden Spitzenmänner, Bernd Riexinger und Dietmar Bartsch, die ganze Zeit überhaupt nichts dazu gesagt haben. Da hätte ich mir schon mal einen Ordnungsruf der Herren gewünscht, aber die hatten natürlich keine Lust, bei diesem Zickenkrieg zwischen die Fronten zu geraten.
Martina (35), Frührentnerin wegen Erwerbsunfähigkeit aus Lörrach, Baden-Württemberg:
Wir müssen viel mehr den Menschen wieder in die Mitte unserer politischen Bemühungen stellen. Also zum Beispiel humanitäre Kiezprojekte gründen, wo wir in Bürgerläden mit Alten und Jungen zusammenkommen und Lebenshilfe geben. So bindet man zukünftige Wähler. Es gibt eine ganze Reihe von Menschen, die in der heutigen digitalisierten Welt völlig vereinsamt, mit denen niemand mehr spricht, und genau um die müssen wir uns kümmern. Ich habe mich zum Beispiel mit diesem Staat arrangiert und bekomme eine Erwerbsunfähigkeitsrente und stocke den Rest auf. Meine ganze Arbeitskraft stecke ich aber umgekehrt in ein solches Nachbarschaftsprojekt, und ich glaube, ich erreiche so für unsere Gesellschaft viel mehr, als würde ich mich jeden Tag in irgendein Callcenter setzen und den Menschen irgendwelche Zeitungen aufschwatzen. Und mit dieser gelebten Menschlichkeit können wir auch unsere Wähler aktivieren, denn die sind da, aber gehen nicht mehr zur Wahl.
Peter Schwiederski (72), ehemaliger Offizier der DDR-Staatssicherheit aus Neubrandenburg in Mecklenburg-Vorpommern:
Der Hauptgrund für diese andauernde Schwäche der Linken ist ganz klar die Zerstrittenheit in den eigenen Reihen. Was mich dabei am meisten ärgert: Es geht leider nicht um Inhalte, sondern da geht es nur um Posten und Funktionen, wer in der ersten Reihe stehen darf. Allein der Umgang mit Sahra (Wagenknecht, Anm. d. Red.) ist doch schon unerträglich. Diejenigen, die sie da kritisieren, haben doch ganz offenbar überhaupt nicht zugehört, sondern ätzen sofort los, wenn Sahra auch nur den Mund aufmacht. Dabei vertritt sie doch eine klare sozialistische Haltung im besten Sinne unseres Parteiauftrages. Wenn die großen Vorsitzenden Katja Kipping oder Bernd Riexinger den Mund aufmachen, dann kommen da doch nur Sprechblasen bei raus. Ich glaube, das Grundproblem ist schon diese Doppelspitze. Früher hatten wir einen Generalsekretär, der hat die Linie vorgegeben, und das Zentralkomitee ist gefolgt. Aber eine Doppelspitze bedeutet nur Zoff in der Führung.
Stefan (43), freiberuflicher Künstler aus Berlin:
Wir sind auch zu geschichtsvergessen. Wir haben gerade 200 Jahre Karl Marx gefeiert, aber hat die Linke diesen Geburtstag tatsächlich mitgefeiert? Nein, und genau das ist auch das Problem, zum Beispiel im Bundestag. Wir sind keine knüppelharte Oppositionspartei, sondern immer wieder schielt unsere Parteiführung auf Regierungsoptionen. Anstatt klar solidarisch Front zu machen für die unbegrenzte Aufnahme von Flüchtlingen, wurde gekuschelt, weil man ja wieder Rot-Rot-Grün im Blick hatte. Kein Mensch ist illegal, das war mal Parteidoktrin der Linken, heute müssen wir über solche Selbstverständlichkeiten hier in der Partei diskutieren. Und ich bin mir sicher, auf dem Parteitag wird es dazu wieder einen wachsweichen Beschluss geben, der Abschiebungen zwar verurteilt, aber dann doch aus irgendwelchen konstruierten Gründen zulässt.
Ulas Tekin (37), Stahlschlosser aus Ingolstadt, Bayern:
Das klingt jetzt vielleicht etwas merkwürdig, aber die Linke ist vielleicht auch ein Stück weit Opfer ihres eigenen Erfolges geworden. Egal ob KPD, SED, PDS, die Linke war immer die Friedenspartei, war immer das Sammelbecken gegen Imperialismus und Krieg. Wir haben jetzt seit über 70 Jahren Frieden in Europa und daran hat auch die linke Bewegung der 70er- und 80er-Jahre einen sehr großen Anteil. Aber die jetzige Bedrohung des Friedens ist für die Menschen nicht mehr so präsent wie noch vor 30 Jahren. Wenn man sich das Säbelrasseln der Nato an ihrer Ostgrenze gegen Russland anschaut oder was sich der Westen in der Ukraine erlaubt hat, das ist blanker Imperialismus wie zu Zeiten des Kalten Krieges. Aber diese Gefahr nimmt kaum einer so richtig wahr.