Tilo Roth ist nach zweijähriger Abwesenheit zurückgekehrt ins „The Grand" in Mitte. In das Restaurant, dessen Küchenstil der „Fleischversteher" bereits von 2012 bis 2016 entscheidend prägte und in dem er nun wieder richtig aus dem Vollen schöpfen kann.
Kann es ein schöneres Bild geben als dieses? Tilo Roth steht vor dem „Schaufenster" des Reifeschranks im kleinen Gastraum linker Hand. Gut abgehangene Fleischstücke rahmen den kulinarischen Chef vom „The Grand" ein. Lächeln allseits. Denn: Der „Fleischversteher" ist wieder da. An seinem vorvormaligen Wirkungsort, dem Restaurant und Club in der Hirtenstraße, gleich hinterm Kino Babylon. Dort hatte sich der 53-Jährige bereits in seinem ersten Durchgang als Küchenchef von 2012 bis 2016 seinen Ehrentitel erarbeitet. Nach einer zweijährigen Schleife über die Selbstständigkeit in der „Gaststätte am Ufer" und als Küchenchef im „Rio Grande" kehrte Roth im September nach Mitte zurück. Er polierte im „The Grand" die Karte mit einem Tick Finesse und einer Prise Bodenständigkeit wieder auf.
Sicher bekommen wir auch gleich ein Steak? „Ihr bekommt ein Ochsenkotelett und ein Cocoon aged gereiftes Filet vom Pinzgauer Rind." Uns läuft beim Anblick des Reifeschrankes und bei den Erklärungen zum Fleisch das Wasser im Mund zusammen. Wie könnten wir Roth, der passenderweise aus einer hessischen Landfleischerei mit angeschlossenem Bauernhof stammt, nicht vertrauen? Wir müssen nur eine Kleinigkeit erfragen: „Cocoon aged" bedeutet, dass das Filet im eigenen Talg mindestens sechs Wochen unter Luftabschluss gereift ist. Roth weist auf eine überdimensionale vanillegelbe „Biskuitrolle" auf einer Platte. Unsere Freude ist groß, als uns ein Stück vom darunter verborgenen Fleisch auf einer krönchenartig aufgebauten Steinplatte am Tisch wiederbegegnet.
Mario Röseler ist als Griller in der Küche „die rechte Hand vom Fleischteufel", wie Roth lachend sagt. Röseler sorgt dafür, dass Filets und Ochsenkotelettes im Southbend-Grill bei schlappen 800 Grad von außen gut gebräunt und ankaramellisiert werden. Das Filet ist von innen perfekt rosa, liebevoll in Scheiben geschnitten, zart im Biss. Die Tranchen vom Ochsenkotelett fächern sich nicht minder appetitlich vor der Knochensichel auf. Selbst die gemüseliebende Begleiterin ist einfach nur entzückt. Die Beilagen halten dem röschen Fleisch perfekt stand: unaufdringlich, aber mit Präsenz. Schwarzwurzeln mit Trüffeln – ein Gedicht mit einem Tick Biss. Handgeschnittene und in Entenfett frittierte Pommes – ein vorzüglicher Imbiss schon für sich. Selbstgemachten Ketchup oder die Mayonnaise nicht vergessen! Rosenkohl mit Maronen und Granatapfel, gegrilltes und gebratenes mediterranes Gemüse – hallo Paprika, hallo Kirschtomate, hallo Grünspargel, so nehmen wir euch im Winter gern! Auch die im Speckmantel strammstehenden Böhnchen sehen nicht nur attraktiv aus, sondern schmecken auch so. Die von Hand aufgeschlagene Béarnaise flufft, die Cognac-Sauce pfeffert mit Kügelchen kräftig vor sich hin, und jeder mixt sich seine Favoriten-Zusammenstellung auf dem Teller zusammen.
Auch Veganer fühlen sich hier wohl
Wir sitzen im großen Gastraum im Erdgeschoss in unserer Mittelkoje auf Bänken und fühlen uns so überhaupt nicht auf dem Präsentierteller. Denn um uns herum, ob in großen Gruppen oder zu zweit, herrscht ebenfalls bukolischer Übermut. Sei’s beim Verzehr von Tellergerichten wie der „Mille Feuille" mit Ricotta, Wirsing und Aprikosen, bei einem klassischen Caesar Salad oder einem Dutzend Austern. „Klar, man kommt wegen des Fleisches", sagt Tilo Roth. „Aber auch die vegane Dame aus der Nachbarschaft, die die Atmosphäre mag, fühlt sich wohl."
Sie findet etwa die mit Caponata gefüllten kleinen Artischocken auf Hokkaido und Zucchini bei den Vorspeisen oder einen Topinambur-Strudel mit Äpfeln und Linsen und Hokkaido bei den Hauptgerichten für sich. Versteht sich, dass immer auch vegetarische Gerichte auf der Karte stehen.
Im Frühling soll’s noch mehr in Richtung Vorspeisen zum Teilen gehen, so „wie früher" in einer Gaststätte; noch internationaler und berlinischer im besten Sinne werden: „Was ich aufsauge an Einflüssen in der Stadt und was ich mag, will ich verarbeiten", sagt Roth. „Es werden keine Dönerscheibchen auf dem Teller liegen, sondern eher eine Boudin Noir mit Jakobsmuscheln."
Im Sommer sollen die Kleinigkeiten „mehr aus der Fisch-Ecke, im Winter aus der Enten-Ecke" kommen. Aus Letzterer stammt die angekühlte Foie-Gras-Terrine mit ein bisschen Granny-Smith-Hack und Feigen – etwas stückig im Biss, erfrischend im Apfel und rundherum zum wohligen Aufseufzen. So wie der nächste Gang, in den der Feinschmecker-Fotograf und ich uns hätten hineinlegen können. Das wäre allerdings bedauerlich gewesen, denn dann wären wir von einer heißen Hummer-Bisque übergossen worden und hätten nicht die Möglichkeit gehabt, uns an der Güte der in der Tellermitte hockenden Wildgarnele und der Intensität der feinflüssigen Suppe zu erfreuen. Die Bisque ist „mit einem Tropfen Kokos und Mango" asiatisch abgestimmt, wie Roth verrät. Sehr fein!
Eine Kreuzung aus Shabby Chic im historischen Ambiente der alten Jungen- und Mädchenschule mit pompösen jetztzeitigen Akzenten prägt den Stil des Hauses: Wo sonst kann man in Berlin einen Tagungsraum mit Badewanne unterm Designer-Kronleuchter buchen? Auch das passt zur Handschrift des Küchenleiters, wie Tilo Roth sich offiziell nennt. Er ist für die gesamte kulinarische Strecke des „The Grand" zuständig, die neben dem Restaurant auch Bar, Club und einige „Suiten" im Haus umfasst. Zweifellos zeigen Austern, Hummer und Fleischauswahl, dass Roth bei den Produkten und in seinen Kreationen aus dem Vollen schöpfen kann.
Das Dessert lässt jeden verzückt schwärmen
Es gibt vom Schönsten das Beste und davon gern auch viel. Das Resultat: ein glücklich strahlender Chef, der mit seiner nur dreiköpfigen festen Küchentruppe täglich ein großes Programm wuppt. So manches Mal für viele Menschen gleichzeitig: Allein im Restaurant auf seinen zwei Ebenen finden bis zu 165 Personen Platz. Dazu kommen der „Ballroom" für 100 Personen plus die kleineren Private-Dining- und Eventräume. Weil das mit der Opulenz und Finesse bei den „richtigen" Gerichten so gut klappt, brachte Roth gleich mit dem neuen spirituosenaffinen Betriebsleiter Matthias Martens eine Edition von Mini-Food-Drink-Pairings heraus. Eine Serrano-Schinken-Welle liegt aufgespießt über einem „Negroni Grand Espuma" und passt sich mit fleischiger Süße an den bitterlichen Drink an. Der „Wild Child Berlin Dry Gin" liegt der Barcrew offenkundig am Herzen. Der lokal produzierte Gin tritt gleich in allen unseren drei Aperitifs in Erscheinung. Die herber orientierte Begleiterin wählt einen „Berlin Dirty Olio", eine Spielart vom Dry Martini. Der wird nicht nur mit Olivenspießchen, sondern auch mit einer Oliventapenade im Ex-tra-Schälchen und mit Grissini-Stengeln zum Knuspern ergänzt.
Ich entscheide mich für den floraleren „French 1842" mit Champagner, Gin und Liquor 43, der in seinem opaken Altrosa so unschuldig mädchenmäßig tut, aber mit Gin-Anschub von hinten und einer Kugel Passionsfruchtsorbet ganz erwachsen durchstartet. Schöne Sache, diese ausgewachsenen Drinks „mit Schnickeldi", wie wir sie taufen. Geht auch mal so, ganz ohne großes, üppiges Essen an der Bar und tut im Zehn-plux-x-Euro-Bereich pro Glas nicht weh. Höchstens, wenn’s das eine oder andere Glas mehr wird oder der Abzweig ins Restaurant ansteht. Da sind in dieser Liga dann doch Portemonnaie oder Kreditkarte vorher ordentlich aufzuladen. Weil wir in unserem bewährten Trio die Drinks munter familiär durcheinander probieren, bleiben wir beim Wein mit einem fruchtigen chilenischen Sauvignon Blanc lieber beständig und auf der Linie des Hauses. „Hier werden Champagner, Chablis und Sancerre getrunken", erzählt Martens. „Und zum Fleisch was kräftiges Rotes, gern aus dem Burgund."
Als wir denken, dass nach Vorspeisen, Suppe und Fleisch vom Grill nun gar nichts mehr geht, kündigt Thilo Roth schließlich Topfenknödel an. Ausgerechnet! Tendiert er doch ohnehin dazu, aus seinen Desserts ausgewachsene Gerichte zu machen. „Ich bring euch zwei, einer reicht euch nicht", entscheidet der Chef. Der Versuch, uns herunterzuhandeln, scheitert auf ganzer Linie. Was soll ich sagen? Bald darauf liegt kein einziger Krümel von den goldbraunen Knödeln oder Rumzwetschgen geschweige denn irgendetwas von der dickflüssigen Nougatsauce mehr auf dem Teller „Der Topfen hat ein paar Umdrehungen mehr als Magerquark", stellt die Begleiterin zufrieden fest.
Innen ist der Knödel fluffig wie ein Wattebausch und von außen knusprig von einer Pankomehl-Kruste. Die Begleiterin seufzt: „Die Pflaumen!" Ich seufze: „Die Nougatsauce!" Der Fotograf seufzt: „Ich muss jetzt drei Stunden extra ins Gym!" Thilo Roth kennt eben seine Pappenheimer und weiß, wie er seine Gäste kriegt – mit Gerichten, die keine Angst vor Substanz, Intensität und Aroma haben und mit seinem Händchen fürs Fleisch sowieso. Es scheint, als sei Roth wiedergekommen, um nun endgültig zu bleiben. Und das „The Grand" täte gut daran, ihn auf gar keinen Fall wieder ziehen zu lassen.