In Heidelberg entsteht die größte Passivhaus-Siedlung der Welt. Dank Niedrigenergie-Bauweise und Holzheizkraftwerk wird die „Bahnstadt" zur Null-Emissions-Siedlung für fast 7.000 Menschen.
Wer am Hauptbahnhof ankommt, ist schneller in der Heidelberger Zukunft als im Heidelberger Gestern mit seiner barocken Pracht und dem Kopfsteinpflaster und, über allem, dem Schloss. Zur Altstadt, durch die sich die Touristen schieben, sind es zwei S-Bahn-Stationen oder ein ausgedehnter Spaziergang. Zur „Bahnstadt", dem jüngsten Stadtteil Heidelbergs, kann man direkt von der Überführung des Bahnhofs herabsteigen.
Hier, wo bis 1997 die Güterzüge rangierten, entstehen Gebäude, die es in dieser Form, in dieser Zahl kein zweites Mal gibt. Die austauschbar aussehen – sie könnten genau so auch in einem Münchner Neubaugebiet oder einer Satellitenstadt von Shanghai stehen oder eigentlich überall auf der Welt: weiß, würfelförmig, aus der Vogelperspektive eine Schuhkartonsammlung. Häuser, die aber etwas ganz Besonderes sind: fast unbeheizt, trotzdem immer wohlig warm.
Zu den ersten, die im Spätsommer 2012 in die Bahnstadt zogen, Baufeld „Schwetzinger Terrassen", Einheit C2.3, gehören Susanne und Volker Schmidt, ein Pädagogenpaar – sie Mitte 30, Grundschullehrerin, er Anfang 40, Deutsch und Geschichte am Gymnasium. Dass sie mit Kindern können, trifft sich gut: Sie teilen ihr Bahnstadt-Zuhause mit ihrer neunjährigen Tochter Mina, dem zwei Jahre jüngeren Bruder Arian, dem dreijährigen Liam und, im Mai erst zur Welt gekommen, der kleinen Ilana.
Die ersten zogen im Spätsommer 2012 ein
Zu sechst, dazu Golden-Retriever-Hündin Kyra, wohnen sie auf 140 Quadratmetern, Erdgeschoss und erster Stock, eine Maisonette-Wohnung. „Wir haben in jedem Raum eine Heizung hängen", sagt Vater Volker. „Aber die brauchen wir quasi nicht. Letztes Jahr haben wir vielleicht an zwei Tagen geheizt." Die Erklärung, die seine Frau dafür liefert, klingt fast esoterisch: „Unsere Körper wärmen die Wohnung. Dazu die Sonne. Oder wenn wir mal eine Kerze anzünden." Ist aber keine Esoterik, ist Physik. Die Schmidts wohnen in einem Passivhaus, so gut gedämmt, so durchdacht durchlüftet, dass tatsächlich fast keine Heizenergie mehr nötig ist. „Selbst im Winter", sagt Volker, „fällt die Temperatur kaum einmal unter 20 Grad."
Möglich wird das, weil ein Passivhaus Wärmeverluste vermeidet, so gut es geht. Knapp 30 Zentimeter dick sind die Außenwände gedämmt, noch mehr ist es an den Dächern. Die Fenster sind dreifachverglast; im Vergleich zu einer 1990 gängigen Verglasung geben sie nur noch ein Viertel der Wohnungswärme ab. Die Fensterrahmen – die bei heutigen Neubauten zu den größten Wärmebrücken zählen – fallen so schmal wie möglich aus.
Andererseits werden Wärmequellen effektiver genutzt. Sonneneinstrahlung, Körperwärme, Hitzeabstrahlung von Haushaltsgeräten – und, ja, von Kerzen: Alles wird in ein Wärmerückgewinnungssystem eingespeist, das etwa 80 Prozent der Abluftwärme recycelt, um damit die Frischluft aufzuheizen. 20 Grad warme Abluft wärmt also im Winter null Grad kalte Frischluft bereits auf 16 Grad Celsius vor, ehe die Heizung überhaupt in Aktion treten muss.
In allen Räumen der Schmidt’schen Wohnung gibt es Düsen, die Frischluft verteilen. Und Absauger, die Altluft entziehen. Mit zwei Ausnahmen, erklärt Susanne Schmidt: „In Zimmern, wo wir schlafen, wird nur Luft zugegeben, in den Bädern nur abgesaugt." Im Keller: Wärmetauscher und Filteranlage. Draußen, hinter der Terrasse im Innenhof, glänzen metallisch zwei Säulen. Eingang und Ausgang der Luft.
Die komplette Bahnstadt wird in extremer Energiesparbauweise errichtet. Auf 116 Hektar, einer Fläche so groß wie 200 Fußballfelder. Es ist die größte Passivhaus-Siedlung der Welt. Bis 2022 soll sie fertiggestellt sein. Rund 7.000 Menschen werden dann in der Bahnstadt leben, so der Plan, knapp fünf Prozent der derzeit 150.000 Einwohner Heidelbergs. Fast noch einmal so viele sollen zum Arbeiten hierherkommen. Dann dürften, so die offizielle Schätzung, rund zwei Milliarden Euro verbaut worden sein.
Energiesparen und Energietanken
Es ist eine Investition in die Zukunft. Denn die Städte von morgen werden weit weniger Energie verbrauchen müssen als die Städte von gestern und heute, damit wir das Klimaziel für 2050 erreichen: minus 80 bis 95 Prozent Treibhausgase im Vergleich zu 1990. Zwar wurde in Deutschland im ersten Halbjahr 2018 erstmals mehr Strom aus erneuerbaren Energien erzeugt als aus Kohle, das ist die gute Nachricht. Die schlechte: Zu einer erfolgreichen Energiewende gehören neben der Strom- auch eine Verkehrs- und eine Gebäudewärmewende. Insbesondere in diesen beiden Bereichen aber ist das Land vom Weg abgekommen. „Deutschland hatte beim Klimaschutz mal eine Vorbildfunktion", so Barbara Metz, stellvertretende Bundesgeschäftsführerin der Deutschen Umwelthilfe. „Das ist definitiv vorbei."
Etwa ein Drittel des deutschen Endenergieverbrauchs entfällt auf den Gebäudesektor. Diesen Verbrauch gilt es so weit wie möglich zu reduzieren, zumal auch der Verkehrssektor künftig verstärkt nach erneuerbaren Energien verlangen wird. Passivhäuser sind eine adäquate Antwort auf diese Herausforderung. Sie kommen mit maximal 15 Kilowattstunden pro Quadratmeter und Jahr fürs Heizen aus (was etwa 1,5 Litern Heizöl oder 1,5 Kubikmetern Gas entspricht). Das sind rund zwei Drittel weniger als bei einem herkömmlichen Neubau. Und nur fünf bis zehn Prozent dessen, was typischerweise benötigt wird, um ein Gebäude aus den 70er-Jahren warmzuhalten.
Heidelbergs jüngster Stadtteil ist ein energiegenügsames Musterstädtle. Nicht nur bei den Immobilien. Auch bei der Mobilität. Die Bahnstadt – das ist den Planern so wichtig, dass sie es gerne und oft betonen – ist eine Stadt der kurzen Wege. Wohnen und Arbeiten, Einkaufen und Freizeit, Kindergarten und Grundschule: Alles soll möglichst in fußläufiger Entfernung zueinander sein. Wie in der guten alten Altstadt. Schon jetzt, da erst gut die Hälfte der Bahnstädter eingezogen ist, sind fünf Kindergärten, eine Grundschule und die ersten Geschäfte geöffnet. Friseure, Cafés, ein Supermarkt. Ein Zahnarzt, direkt neben einer Eisdiele.
Und nicht nur an das Energiesparen, auch an das Energietanken wurde beim Bahnstadtbauen gedacht. In den Innenhöfen und zwischen den Häusern: großzügige Flächen mit Wiesen und Wasser. Viele der Flachdächer: begrünt. „Man kann schon sagen, dass die Bahnstadt eine Ökosiedlung ist", sagt Volker Schmidt. Aber andere Aspekte waren den Schmidts mindestens ebenso wichtig wie eine gute Klimabilanz: wenig Autoverkehr. Spielplätze. Eine lebhafte Nachbarschaft. „Der soziale Faktor", sagt Volker Schmidt. Er singt im Bahnstadt-Chor. Hat eine christliche Gruppe gegründet. Schon kurz nach dem Einzug wurde er Mitglied im Stadtteilverein. Als er davon erzählt, am Küchentisch mit offener Terrassentür, springen plötzlich Nachbarskinder in die Wohnung, Freunde von Sohn Arian. „Tja, so läuft das hier", sagt Volker. „Einmal haben sich die Nachbarn bei mir beschwert, wegen unserer Kinder", erzählt Susanne: „Man sehe die Kleinen ja so selten im Innenhof spielen, haben sie gesagt. Und dass ihnen ein bisschen zu wenig los sei."
Die Bahnstadt ist kinderfreundlicher, generell: menschenfreundlicher als die gängigen Stadtlandschaften mit ihren baumlos-betongrauen Fahrbahnschneisen und den blechbewehrten Randstreifen. Hier herrscht Autoarmut, zumindest oberflächlich. Ein Großteil der Pkws wurde unter die Erde verbannt, in Tiefgaragen – auch die Familienkutsche der Schmidts, ein VW-Bus mit Platz für sechs Passagiere plus Hund. Dafür gibt es 3,5 Kilometer Radwege.
3,5 Kilometer Radwege
Es ist kein Zufall, dass eine solche „Ökosiedlung" in Heidelberg Wirklichkeit wird. Das wird einem schnell klar, wenn man das „Prinz Carl" im Herzen der Altstadt besucht, früher Grand Hotel mit Gästen wie Goethe, Sissi und Bismarck, heute städtisches Verwaltungsgebäude. Hier, im zweiten Stock, hat Ralf Bermich sein Büro, Abteilungsleiter Klimaschutz und Energie beim Umweltamt. Bermich, Diplomphysiker, randlose Brille, Diplomphysikerbart, hat vor 25 Jahren bei der Stadtverwaltung angefangen. Kurz nachdem Heidelberg ein Klimaschutzkonzept beschlossen hatte, 1992 war das. „Damals hatte die erste Weltklimakonferenz in Rio stattgefunden", erinnert sich Bermich. „Heidelberg startete eine Kampagne mit dem Motto: ‚Rio verhandelt, Heidelberg handelt‘." Etwas großspurig sei das schon gewesen, fügt Bermich hinzu.
Aber: Heidelberg hat gehandelt. Der Energieverbrauch der städtischen Gebäude wurde seitdem um mehr als 50 Prozent reduziert. Und schon fast die Hälfte aller Heidelberger Häuser wird inzwischen energieeffizient durch Fernwärme aus Kraft-Wärme-Kopplung beheizt. Mit einem steigenden Anteil erneuerbarer Energiequellen. 2014 schließlich hat die Stadt den Masterplan „100 Prozent Klimaschutz Heidelberg" beschlossen, mit dem sie bis 2050 zur klimaneutralen Kommune werden will.
Nach dem Studium, erzählt Bermich, habe er zunächst bei einem Solarenergie-Forschungsinstitut gearbeitet. Dass seine Projektstelle dort auslief, sei ein Glücksfall gewesen: „In der Forschung bestehen die Ergebnisse in den meisten Fällen nur aus Papier. Hier in Heidelberg sind sehr, sehr viele Dinge Realität geworden." Dazu zählt nun auch die Bahnstadt als weltgrößter Passivhaus-Stadtteil. Wobei dieser Titel wackelt: „Derzeit entstehen in China mehrere große Passivhaus-Projekte – zwei davon haben sogar den Namen Bahnstadt übernommen."
Ob die chinesischen Bahnstädte so viel Wert aufs Detail legen werden wie ihre badische Blaupause? Vor fünf Jahren ging im benachbarten Stadtteil Pfaffengrund ein Holzheizkraftwerk ans Netz, das überwiegend mit Holzresten aus der Landschaftspflege betrieben wird und die Heidelberger Bahnstadt – „bilanziell", wie Bermich betont – zum Null-Emissions-Stadtteil macht.
Bermich zählt weitere Bahnstadt-Details auf. Die vertikale Vielfachnutzung der Fläche: Kein Dach soll nur Dach sein, sondern auch Grünanlage. Oder Sportanlage, wie im Fall des Schulgebäudes, auf dessen Flachdach ein Fußballfeld angelegt wurde. Das Regenwasser, das nicht in der Kanalisation verschwindet, sondern auf Gründächern und in Wasserbecken zurückgehalten wird: „Mit der Verdunstungskühlung kann man den Effekt des heißen Stadtklimas etwas abmildern." Die Straßenlaternen: allesamt mit energiesparender LED-Beleuchtung. Teils per Zeitschaltung gedimmt. Manche mit Sensoren, sodass sie richtig hell erst dann leuchten, wenn sich ein Fußgänger oder Radfahrer nähert.
Richtig günstig allerdings ist all das nicht zu haben. Susanne und Volker Schmidt konnten sich die Bahnstadt schon 2012 nur leisten, weil ihre Eltern sie großzügig unterstützten. Rund 450.000 Euro kostete ihre Wohnung, etwa 3.200 Euro pro Quadratmeter. Heute, sechs Jahre Immobilienboom später, wäre der Kauf für sie illusorisch.
Die Passivhaus-Bauweise trage zu den hohen Preisen wenig bei, darauf besteht Bermich. „Passivhäuser sind nicht viel teurer zu bauen, das liegt vielleicht so im Bereich drei bis acht Prozent. Unterm Strich sind sie wahrscheinlich sogar billiger, da man durch den geringeren Wärmebedarf viel Geld beim Heizen spart. Über 30 Jahre gesehen rechnet sich das." Trotzdem hat Heidelberg für die Bahnstadt eine Art städtische E-Haus-Prämie ausgelobt: eine monatliche Mietkostenbeteiligung von bis zu vier Euro pro Quadratmeter oder einen einmaligen Kaufzuschuss, je nach Zahl der Familienmitglieder. Auch die Schmidts konnten sich bei ihrem Einzug über einen Eigenheimzuschuss der Stadt freuen: 15.000 Euro Familienprämie plus 1.500 Euro für jedes Kind – damals waren es erst zwei. Das Fördergeld haben sie direkt unter ihrem Zuhause vergraben. Die 18.000 Euro reichten passgenau für den Tiefgaragenstellplatz.