Es gibt ihn noch. Doch für Nostalgie ist kein Platz mehr. Heute trägt der Müller nicht mehr eine Zipfelmütze und einen Mehlsack über der Schulter, sondern bedient sich eines Gabelstaplers. Einen von den „alten", den traditionellen Müllern, hat FORUM besucht.
Ausgerechnet in Berlin-Marzahn, einem Ortsteil, bei dem jeder eher an Plattenbauten denkt als an eine Mühle, steht sie noch: die Bockwindmühle aus dem 19. Jahrhundert. Es handelt sich zwar um einen Nachbau der Originalmühle von 1873. Aber seit ihrer Fertigstellung im Jahre 1994 ist sie wieder in Gang. Hier wirtschaftet Jürgen Wolf, der einzige kommunale Müller Berlins.
Bockwindmühle? Laut Wikipedia ist das der älteste europäische Windmühlentyp. Das gesamte Mühlenhaus steht auf einem einzelnen dicken Pfahl (dem „Hausbaum"), der senkrecht in einem unterhalb der eigentlichen Mühle befindlichen hölzernen Stützgestell (dem namengebenden „Bock") befestigt ist. Auf dem Bock kann die gesamte Mühlenmaschinerie mittels der Hebelwirkung des Außenbalkens in den Wind gedreht werden – eine beschwerliche Arbeit.
Die Marzahner Mühle ist ein Import aus Holland, gebaut aus zum Teil 500 Jahre altem Holz. Das arbeitet immer noch. Deshalb hat Wolf immer etwas zu kontrollieren und auszubessern. Weil er mal Tischler gelernt hat, konnte er den Innenausbau selbst machen. Innendrin ist sie nur zum Teil eine historische Mühle, hier sind traditionelle und moderne Technik miteinander verbunden. Wenn genug Wind da ist und sich die Flügel drehen, produziert sie sogar Strom.
Müller darf sich nennen, wer eine Gesellen- oder Meisterprüfung abgeschlossen hat. Eigentlich lautet die korrekte Berufsbezeichnung „Verfahrenstechnologe/technologin Mühlen- und Getreidewirtschaft". Wer heute eine moderne Mühle betritt, taucht in eine hochtechnisierte Welt ein, digital und computergesteuert, komplett automatisiert und mit gesicherter Rückverfolgbarkeit, vom Getreide auf dem Acker bis zum versandfertigen Mehl. Die „Verfahrenstechnologen" – sprich Müller – überwachen die Qualität des Getreides während der Verarbeitung. Die Prozesssteuerung der Anlagen mittels Computer gehört genauso zu ihrem Berufsbild wie die Arbeit im Labor, wo die Analyse der angelieferten Rohstoffe und die Produktkontrolle stattfinden.
Bei Wolf ist alles noch Handarbeit. Bei Führungen durch die Mühle und über das Außengelände demonstriert er, wie noch bis vor 100 Jahren Korn zu Mehl gemahlen wurde und wie der Alltag seiner Berufskollegen aussah. Die Arbeit damals war schwer und staubig. Seine Mehlsäcke sind inzwischen etwas kleiner und Mehlstaub muss man bei ihm fast mit der Lupe suchen. Ein Handwerk, das über Jahrhunderte gleich geblieben ist, so unverzichtbar wie das sprichwörtliche tägliche Brot, das es ohne Müller nicht gab.
Die Mühlsteine dürfen sich nicht berühren
„Die Marzahner Mühle hat drei unterschiedlich große Mahlwerke", erklärt Jürgen Wolf. Bei allen aber wird das Korn zwischen zwei Mühlsteinen gemahlen, das daraus entstehende Schrot abgesiebt. Durch verschiedene Siebe werden unterschiedliche Mehlstärken erreicht. „Mal staubfein in der Korngröße, in der man es gut verbacken kann für feinere Produkte", erklärt Wolf, „Vollkornmehle für kräftigere Produkte wie zum Beispiel Brote." Die Ausbeute nach dem ersten Mahlgang sind ungefähr 30 Prozent. „Nicht viel, aber das war lange Zeit der Standard in der Müllerei und es reichte aus, um die Menschen zu ernähren, der Rest war Viehfutter." Das mehrfache Mahlen und Sieben wurde übrigens in Frankreich erfunden. Dabei werden die Mühlsteine immer enger gestellt. Sie dürfen sich aber nicht berühren, durch die Reibung würde sich das Mahlgut entzünden. „Je nach Siebstärke beträgt die Ausbeute heute 50 bis 70 Prozent, bei der industriellen Verarbeitung sind es bis zu 90 Prozent. Bei Roggen können es in großen Mühlen bis zu 15 Durchgänge werden, bei Weizen sogar bis zu 30."
Bei Müller Wolf sind es vier bis sechs Durchgänge. Um qualitativ gutes Mehl zu erhalten, muss er darauf achten, dass gleiche Korngrößen und -strukturen sortiert und vermahlen werden. Mit einer Förderschnecke gelangt das fast fertige Mehl in die Mehlmischmaschine. Dort entstehen dann die verschiedenen Mehle wie Roggen-, Weizen- oder Dinkelvollkornmehl mit gleichmäßiger Backqualität. Das Mehl kann man bei Müller Wolf kaufen. Er bietet auch Brote und „Mühlentaler" an, aber nur an bestimmten Tagen wie Ostern, Pfingstmontag zum Deutschen Mühlentag oder zum Marzahner Erntefest.
Der Marzahner Müller vermahlt nur Korn zu Mehl. In großen Industriemühlen werden beispielsweise auch Mais, Reis, Buchweizen, Erbsen und Bohnen für die menschliche Ernährung verarbeitet sowie Futtermittel für Nutz-, Heim- und Zootiere produziert. Wolf ist stolz darauf, dass er eine Familientradition fortsetzt. Auch sein Großvater war Müller. Aber erst in der Wendezeit lernte er den Beruf, hatte damit aber im Osten genauso wenig eine Perspektive wie als Tischler. Also ging er erst mal auf Wanderschaft, schließlich ist das Wandern ja des Müllers Lust. Er wollte Erfahrungen sammeln in verschiedenen Mühlen und unterschiedliche Techniken kennenlernen. Damit empfahl er sich, als in Marzahn ein Müller gesucht wurde, der die historische Bockwindmühle betreiben und das kleine Museum für Besucher betreuen konnte.
Vom Korn zum Keks – Kinder lernen den Weg des Getreides
Seit 1994 gibt es auch den Mühlenverein Berlin-Marzahn. Der kümmert sich mit um den Betrieb und die bauliche Erhaltung der Mühle, denn das Bezirksamt bezahlt nur den Müller und den Strom. Insbesondere die Flügel sind anfällig. Stürme und sogar eine Wasserhose haben ihnen stark zugesetzt, sodass sie schon mehrmals repariert oder neu gebaut werden mussten. Das wird aus Spenden und mit Sponsoren und durch Kooperationen mit anderen Partnern finanziert. 1997 bekam die Mühle den Deutschen Mühlenpreis. Im selben Jahr fand dort auch die erste „Mühlenhochzeit" statt, denn die Marzahner Mühle ist eine Außenstelle des Standesamtes von Marzahn-Hellersdorf. In diesem Jahr wird dort das 500. Paar getraut.
Für Schulklassen gibt es das Angebot „Vom Korn zum Keks". Die Kinder verfolgen den Weg des Getreides von seiner Kultivierung bis zum heutigen Lebensmittel und dürfen sich dann beim Selbermahlen und Keksbacken ausprobieren. Mit Jürgen Wolfs Hilfe können ganz Mutige versuchen, den Mühlenkörper zu drehen. In Berlin kommt der Wind meist aus Westen, wird bis Marzahn aber durch die große Stadt abgebremst. Wolf muss dann schon mal eine Nachtschicht einlegen, wenn sich tagsüber kein Lüftchen regt. Wenn gar nichts geht, gibt es immer noch einen Elektromotor für die Maschinen.