Von gut 60 Millionen, die New York jedes Jahr besuchen, überquert nur ein Viertel den East River. Dabei lohnt ein Abstecher in den Südosten der Stadt. Zum Beispiel ins Hafenviertel Red Hook. Weniger Glamour als in Manhattans Hochhauswelt – aber dafür viel Kreatives in alten Lagerhäusern.
Gebrannter Zucker, Krümel von holländischen Sirupwaffeln und gesalzene Toffeestückchen: Das sind die Hauptzutaten, aus denen die Eissorte „The Hook" gerührt wird. Was so süß-salzig auf der Zunge zergeht, ist die Geschichte des Stadtviertels Red Hook. Das liegt ganz im Westen von Brooklyn und gleicht einer Halbinsel – es ist auf drei Seiten von Wasser umschlossen. Für die salzige Atlantikbrise ist also immer gesorgt. Die Sirupwaffeln verweisen auf den holländischen Ursprung der Gegend: Die Niederländer gründeten 1646 die Siedlung Breukelen, Ursprung des heutigen Brooklyns – und immer noch sichtbar an den vielen holländischen Straßennamen. Fehlt also nur noch der Zucker: Der lagerte, zusammen mit Gewürzen, Getreide und Kaffee, im 19. Jahrhundert in den riesigen Lagerhäusern aus rötlichem Stein. Damals standen in Brooklyn so viele dieser Bauten, dass die Stadt einen neuen Beinamen bekam: „the walled city".
„Wir mögen‘s ein bisschen ruhiger"
Wie ummauert wirkt die Gegend heute nicht mehr, und Zucker lagert auch längst woanders. Aber nach langem Leerstand werden die alten Lagerhäuser jetzt wieder genutzt. Dort sind kleine Geschäfte und Büros, Ateliers und Manufakturen zu Hause, erzählt Dom Gervasi. Der 50-Jährige ist in Brooklyn geboren – und gibt gleich eine Kostprobe des breiten Akzents, der für Brooklyn typisch ist. Seit 2011 bringt Dom eingefleischten New Yorkern genauso wie Touristen aus der ganzen Welt seinen Stadtbezirk nah. In den Fokus rückt er dabei die Macher – Künstler, Designer und Handwerker. Eben alle, die etwas gestalten, herstellen. Das kann Whisky sein oder Kaffee, Ledertaschen oder Glas. Oder eben Eiscreme, wie in der Molkerei Ample Hills, aus der das Eis zum Stadtteil stammt. „Hauptsache made in Brooklyn‘", fasst Dom das Motto seiner Touren zusammen. Die Stadtviertel, die er vorstellt, sind sehr verschieden, aber eine Tendenz lässt sich erkennen: Je weiter Manhattan in die Ferne rückt, desto entspannter wird das städtische Leben. „Ich bin schließlich aus Süd-Brooklyn, und wir mögen’s ein bisschen ruhiger", grinst er. Trotzdem: ruhig – in New York?
Tatsächlich wirkt Red Hook auf den ersten Blick schon fast verschlafen, ein kleines Küstenörtchen, in dem sich niedrige Häuser aneinanderreihen. Fahrradfahrer radeln an den alten Lagerhäusern vorbei, die sich zwischen den Hafenbecken gehalten haben. Auf einem Hausboot wartet ein Kanu auf seinen Einsatz im East River. Die Ruhe kommt nicht von ungefähr: Eine Schnellstraße trennt das Viertel seit den 50ern vom übrigen Brooklyn, die Subway hält hier nicht. Und die Gegend war ohnehin lange Zeit tabu, erklärt Dom: „Red Hook hatte einen üblen Ruf, auch wenn das für viele Ecken von Brooklyn galt. Aber hierhin kam man einfach nicht, selbst als Brooklynite. Das hat sich in den letzten Jahren komplett gewandelt." Nicht zuletzt hat Ikea den Stadtteil entdeckt und 2008 eine Filiale direkt am Wasser eröffnet. Das hat die 12.000 Einwohner lange polarisiert, so Dom: „Red Hook war Teil des alten Brooklyn. Aber plötzlich hatten die Leute Angst, dass die Gentrifizierung losgeht." Der Möbelhändler hat sogar die Fähre nach Manhattan wiederbelebt, aber außer an den Wochenenden bleibt es in Red Hook ruhig.
Alte Handwerkstraditionen gedeihen hier gut
Mehr oder weniger zumindest. Denn ohrenbetäubender Lärm ist das erste, was einem entgegenschallt, sobald man die Eisentüren des großen Lagerhauses an Pier 41 passiert hat. Schleifmaschinen schreien um die Wette mit dem Gebläse aus zahlreichen Öfen, ein Radio plärrt dazwischen. In diesem Klangteppich kümmern sich die Mitarbeiter von Flickinger Glassworks um die richtige Krümmung von Glas. Zum Beispiel für die gebogenen Fliesen der New Yorker Subway-Station Bleecker Street, für die Thekenvitrine eines Cafés oder für eine Lampenschüssel. Bei Flickinger wird Glas nach Kundenwunsch bearbeitet, erzählt Dom und gibt eine kleine Einführung in das Erhitzen und Biegen, Sandstrahlen, Polieren und Verpacken der zerbrechlichen Ware. Inzwischen sei die Firma „the last man standing". Dom zeigt auf Hunderte von Formen, die sich in der riesigen Halle stapeln: „Hier können Kunden noch Glas nach Originalen aus den 1830er-Jahren nachbestellen – die passende Form ist da." Die rund 4.000 Formen aus Stahl, jede einzelne nummeriert, stammen von all den Firmen, die das Glasbiegen schon aufgegeben haben.
Alte Handwerkstraditionen scheinen in diesem Winkel von Brooklyn gut zu gedeihen. Zwei Ecken weiter säumen alte Brownstones die Straße, Häuser aus dem ortstypischen Sandstein in Rot- und Ockertönen. In einem von ihnen hat der Designer Alfred Stadler sein kleines Studio eingerichtet. Der gebürtige Schweizer hat das Viertel vor Jahren entdeckt, jetzt gestaltet er dort Taschen und Accessoires aus Leder und Filz. Stadler ist gelernter Sattelmacher, sein Wissen über Leder und alte Handwerkskunst gibt er auch in Workshops weiter. Jede Menge Werkzeuge, Leder- und Stoffstücke säumen Wände und Tische des Ateliers. Bei aller Leidenschaft für Handarbeit – Stadler achtet durchaus aufs Tempo: Knapp 20 Minuten darf das Nähen eines Lederkorbs dauern. Dann, grinst der Schweizer, sei er zufrieden.
In der nahen Conover Street misst man die Zeit eher nicht in Minuten: Was dort in großen Eichenholzfässern heranreift, braucht ohnehin Jahre, bis es über die kleine Ladentheke gehen kann. Der Bourbon aus der jungen Destillerie Prieto entsteht nach allen Regeln der alten Handwerkskunst – und dazu gehört auch, dass er lange Jahre im Fass ruht, während er sein Bouquet entfaltet. Der besondere „Twist", wie sie das hier nennen, liegt in der Zutat Wasser: Es kommt aus einem Kalksteinbruch nördlich von New York, aus denen nicht nur Prietos Bourbon seinen Hauptbestandteil bezieht, sondern deren Stauseen auch die City selbst mit Wasser versorgen. Ein kleiner Schluck New York sozusagen. Zumal der Steinbruch auch das Material für zahlreiche Bauwerke in New York geliefert hat, etwa für das Empire State Building, die Freiheitsstatue und die Brooklyn Bridge.
„Brooklyn ist eine kleine Stadt"
„Genaugenommen ist Brooklyn keine eigene Stadt", erklärt Dom. „Eigentlich sind hier ganz viele kleine Gemeinden zu einer großen Nachbarschaft geworden." Wie kontrastreich Brooklyn ist, wird schnell deutlich: Für den Weg vom stillen Red Hook ins quirlige Dumbo braucht die Fähre gerade einmal neun Minuten. Und während Manhattan am anderen Ufer näher rückt, wird die Weltstadt auch in Dumbo sofort spürbar: Seinen Namen verdankt das Viertel einer Abkürzung – „Down Under Manhattan Bridge Overpass". Genauer genommen liegt Dumbo nicht nur unter der Manhattan Bridge, sondern auch unter der Brooklyn Bridge. Und ist daher ein lautes Pflaster, das Rauschen der Züge, Autos und Lkw, die über die Brücken ziehen, ist konstant. Monumentale Rampen und Pfeiler bestimmen das Bild, die engen Häuserschluchten säumen hohe alte Fabrik- und Lagerhäuser voller Restaurants und Kneipen. Genau hier hat früher das wirtschaftliche Herz von Brooklyn geschlagen, sagt Dom: „Was in Brooklyn hergestellt wurde, musste schließlich auch weitertransportiert werden. Aller Handel hat sich auf die andere Uferseite konzentriert, nach Manhattan." Willkommen zurück, die Auszeit vom Stadtleben scheint vorbei. Aber so ganz stimmt das nicht: Denn wer nur ein paar Schritte ans Ufer des East River geht, in den Brooklyn Bridge Park, kann den grandiosen Blick auf die Skyline genießen – in aller Seelenruhe.