Niemand hat den Brexit kommen sehen, keiner weiß, wie es weitergeht. Aber die Auswirkungen werden schon sichtbar. Dr. Daniel Dettling ist Leiter des Instituts für Zukunftspolitik. Er sagt, Demokratie werde sich verändern und deutlich mehr kulturell und stimmungsgetriebener sein als heute.
Herr Dr. Dettling, Sie sind Leiter des Instituts für Zukunftspolitik. Mit was beschäftigt sich dieses Institut?
Wir beschäftigen uns mit den Herausforderungen der Zukunft, mit Megatrends, großflächigen Veränderungsprozessen wie Globalisierung, Digitalisierung, Wertewandel, Klima und Mobilität und ihren Folgen für die Politik. Politik ist gemeinhin recht kurzfristig getrieben, man verabschiedet kurzfristig Gesetze, steht jedoch vor langfristigen Herausforderungen. Hier den Horizont jenseits der Tagespolitik nicht zu verlieren, ist die große Herausforderung der realen Alltagspolitik. Wir wollen also das Augenmerk schärfen, beraten und wissenschaftlich erforschen.
Auf der europäischen Ebene ergibt sich durch den Brexit künftig ein völlig anderes Bild in Europa. Haben Sie das kommen sehen?
Das war ein unerwartetes, ungehörtes Ereignis. Damit hat keiner gerechnet. Wir als Zukunftsforscher diskutieren solche Szenarien, aber die meisten Prognostiker waren völlig überrascht. Dass der europäische Integrationsprozess, der ja durchaus erfolgreich ist, auf diese Weise massiv gestört wird, ist neu. Ich glaube, das haben die Befürworter wie die Gegner des Brexits unterschätzt. Bislang galt es als eine rechtliche und politische Unmöglichkeit, dass eine europäische Seite einseitig kündigt.
Was sind die Ursachen dafür?
Diese sind kultureller Natur. Wir sehen und verteidigen Europa heute vor allem als ökonomisches, auch als politisches Projekt. Die Gegner der europäischen Einigung gab es auch schon vor dem Brexit und sie haben sich auch schon vorher zu Wort gemeldet. Ihre Argumente sind oft kultureller Natur: Für sie geht es um Identität, um Souveränität, die man nicht abgeben oder teilen will. Man will sich nicht zentralisieren und regieren lassen von Brüssel. Man will die Kontrolle behalten, über die eigenen Gesetze, Geld, Grenzen. Dies kulminierte in der Flüchtlingskrise 2015. Ohne die Migrationsbewegung hätte es den Brexit nicht gegeben. Bis dato waren die Umfragen sehr positiv gegenüber den „Remainern", also denjenigen, die in der Union bleiben wollten. Aber mit der Zuwanderung und den Flüchtlingen kam die Diskussion zur Identität hoch und verschärfte sich.
Die britischen Gegner der EU arbeiteten mit falschen oder übertriebenen Behauptungen. Beispielsweise stellten sie in Aussicht, all das viele Geld, das Großbritannien an die EU überweise, würde man künftig ins nationale Gesundheitssystem stecken. Heute wissen wir: Das kann so nicht passieren. Ist diese Art der Informationspolitik ein Trend, auf den wir uns einstellen müssen? Emotionen statt Fakten?
Das ist ein neuer Trend. Davon hat in den USA auch Trump profitiert. Viele Fragen wurden zu Glaubensfragen: Nützt die Globalisierung oder schadet sie? Nützt die Zuwanderung oder schadet sie? Nützt Europa oder schadet es? Dazu gibt es zahlreiche Studien, die mal das eine, mal das andere belegen. Wir als Wissenschaftler und Politikberater sind da auch oft ratlos. Das sehen Sie aktuell an der deutschen Feinstaubdiskussion und den 100 Lungenärzten, die sich dazu zu Wort gemeldet haben. Da hat sich ein Lungenarzt, der eine große Öffentlichkeit gewann durch sein Verneinen der Feinstaub-Konsequenzen, verrechnet und behauptet weiterhin, im Wesentlichen habe er Recht. Seine Behauptung wird zu einer Glaubensfrage. Emotionen und Stimmungen entscheiden. Fake News, also das Verbreiten von falschen Nachrichten, die im schlimmsten Fall nicht nachzuprüfen sind, haben es über die sozialen Netze leichter, verbreitet zu werden als in den klassischen Medien. Davon profitiert ein anderes mediales Nutzungsverhalten. Viele, gerade junge Leute informieren sich nur noch über soziale Medien, nicht mehr über die klassischen Medien wie Zeitung, Fernsehen und Radio. Das macht es für die Verbreiter von Kampagnen und Fake News leicht zu agieren, weil ihre Informationen vom Leser wenig nachgeprüft werden. Die klassischen Medien dagegen sind der Wahrheit und der Information, der öffentlichen Debatte politischer Entscheidungen verpflichtet und dazu, verschiedene Positionen zu einem Thema zu verbreiten. Es ist ein Informations-, Meinungs- und Glaubenskrieg, der derzeit stattfindet und es schwierig macht, Wahrheit und Lüge auseinanderzuhalten.
In einer Demokratie muss man debattieren, sollte dabei aber hinsichtlich der Fakten übereinstimmen. Ansonsten gibt es keine Diskussionsgrundlage. Über Emotionen lässt sich schlecht diskutieren. Schlittern wir also in eine Demokratiekrise?
Es geht in einer Demokratie immer auch um Zukunftserwartungen, um Interessen und Leidenschaften. Ersteres ist ökonomischer Natur, das zweite emotionaler, sozialer Natur. Wenn man nun den Brexit oder allgemein eine politische Wahl diskutiert, geht es immer um die Frage: Was macht das mit uns in der Zukunft? Dazu gibt es keine Erfahrungswerte – niemand kann beispielsweise genau sagen, welche Folgen der Brexit für die Briten und uns alle hat. Es ist eine unsichere Wette auf die Zukunft, es gibt Prognosen und Meinungen dazu, aber diese Frage kann niemand beantworten. So gesehen gehören Emotionen zur Demokratie dazu. Es ist nicht das Ende der Demokratie, aber das Ende ihrer bisherigen Form. In Zukunft wird Demokratie auch emotional, kulturell und stimmungsgetrieben sein. Für uns als rational getriebene Wissenschaftler, Politiker und Journalisten wird es schwerer. Das wird auch unser eigenes Selbstverständnis verändern.
Zum Guten oder zum Schlechten?
Zukunftsforscher sehen Störungen dieser Art eigentlich positiv. Störungen und Disruptionen treiben uns und können uns auch positiv verändern. Es ist immer Neuland.
Sehen Sie einen Trend zur Veränderung der Politik in Großbritannien, in der EU?
Die Briten versuchen gerade, das Beste daraus zu machen. Ihre Mission ist jetzt „Global Britain", also dass man Großbritannien nicht mehr als europäische, sondern als globale Macht wahrnimmt. Dazu gehört ein neues Selbstbewusstsein, um Verträge mit der EU zu schließen, mit den USA, mit China. Dazu gehört, auch auf der Grundlage der eigenen Geschichte, die Globalisierung mitzugestaltet. Das ist die neue britische Erzählung, die Mehrheitsmeinung im Parlament, in der Politik, der Wirtschaft. Kurzfristig sehe ich aber eher dramatische Folgen aus ökonomischer Sicht für das Land, für die EU eher positive Folgen. Viele Unternehmen werden erst einmal London verlassen, nach Frankfurt oder Paris gehen. Das Pfund wird abgewertet, um die Wettbewerbsfähigkeit Großbritanniens zu sichern. Davon profitieren die Verbraucher außerhalb Großbritanniens, der Tourismus beispielsweise. Wie es sich weiterentwickelt, hängt auch von der ökonomischen Entwicklung der EU ab, von China, USA und Russland.
Und auf EU-Ebene? Entstehen dadurch Veränderungen im Politikstil oder den gesetzten Themen?
Das sehe ich schon. Die Störung ist angekommen. Bislang war das Mantra das „weiter so". Aber so geht es nicht weiter, das hat man gemerkt. Auch, dass man sich etwa mit dem neuen Populismus in Europa auseinandersetzen muss. Da reicht es nicht, nur ökonomisch-rational dagegenzuhalten. Man muss dann auch sagen, wo man Europa schützen muss, sprich auf der kulturellen Ebene die europäische Identität ansprechen. Hier hat die EU bislang zu wenig Antworten geliefert: Wie geht man um mit Zuwanderung, wie mit Afrika, wie mit den autoritären Staaten China und Russland? Hier hat sich Europa immer weggeduckt und auf die USA verwiesen. Das ist mit Donald Trump als US-Präsident nicht mehr möglich. Insofern ist diese Störung durch den Brexit, auch Trump, gut für die EU. Sie muss sich jetzt neu erfinden.
Gibt es dafür konkrete Beispiele?
Annegret Kramp-Karrenbauer, Markus Söder und Manfred Weber von CDU und CSU haben jüngst gemeinsam einen Beitrag in der „Frankfurter Allgemeinen" veröffentlicht, in dem es heißt, man müsse gegen die Feinde Europas aufstehen und Europa demokratisieren. Was auch immer das heißt. Es bedeutet aber auch, dass Europa gerechter werden soll. Bisher war die EU vor allem ein ökonomisches und politisches Projekt, jetzt muss es auch ein soziales werden. Um soziale Themen ging es so gut wie nie oder um die Frage: Was macht uns attraktiver als die autoritären Systeme oder das Monopolsystem der USA? Hier stellt sich die EU neu auf. Wir haben eine Urheberrechtsänderung erlebt, das Leistungsschutzrecht ist eingeführt, beides sind deutliche Ansagen an die USA und China, dass Europa die Themen Datenschutz, Datensouveränität und Urheberrecht sehr wichtig sind. Das Thema gemeinsame Außenpolitik muss nun auch angegangen werden, Präsident Emmanuel Macron hat diese Forderung in seiner Rede an der Pariser Sorbonne gestellt. Von der Achse Deutschland-Frankreich hängt in Zukunft viel ab. Die große Herausforderung wird sein, Europa souveräner zu machen.
Blicken wir zu unseren Nachbarn Polen, nach Italien oder Ungarn, aber auch in viele anderen EU-Staaten, sehen wir zunehmenden Populismus. Ist das die Zukunft auch auf europäischer Ebene?
Man macht es sich zu einfach, als Beobachter von außen zu sagen, Populismus ist per se negativ. Als Politiker muss man natürlich wissen, was das Volk will. Dafür gibt es Umfragen, aber das reicht nicht. Um sich zukunftssicher aufstellen zu können, braucht es Methoden jenseits der Demoskopie. Man muss zuspitzen können, kurzfristig mehrheitsfähig bleiben, um langfristig wettbewerbsfähig zu sein. Das ist intelligenter Populismus. Ein demokratischer Populist, wie ich es mal genannt habe, will mit den Bürgern etwas verändern, spricht eine verständliche Sprache, macht ein politisches Angebot, sagt aber auch, was die Interessen und Werte sind, die dahinterstehen. Er kommuniziert auf Augenhöhe. Macron ist ein solcher „intelligenter Populist", Winfried Kretschmann in Baden-Württemberg oder Horst Seehofer. Nur mit rationalen Argumenten gegen einen gefährlichen autoritären, vergangenheitsfixierten Populismus anzugehen, wird nicht gelingen. Reflexhafte Ablehnung ist ebenfalls kein taugliches Mittel. Damit stärkt man diesen Populismus.
Wird der Nationalismus zunehmen?
Jein. Die europäischen Nationalstaaten wissen, dass sie die Herausforderungen der Zukunft nicht alleine stemmen können. Das weiß auch Viktor Orban in Ungarn, sonst wäre Ungarn auch schon ausgetreten. Aber sie wollen nicht auf ihre nationale Souveränität verzichten. Es braucht also etwas Hybrides – Nationalstaaten, die sich weiter integrieren und dennoch auch autonom sind. Ein Prozess der wechselseitigen Abhängigkeit. Viele Stimmen aus dem linken Spektrum meinen, es brauche so etwas wie die Vereinigten Staaten von Europa, und dann wird alles gut. Ihre Vision ist ein europäischer Staat als Endziel. Davor kann ich nur warnen. Es geht um ein Verhältnis wie in einer Ehe. Dort nimmt man auch nicht eine gemeinsame Identität an und spricht als eine Person, sondern man ist auf Augenhöhe gleichberechtigt und genießt die Vorteile der wechselseitigen Abhängigkeiten. Demokratien sind vielschichtig, und alle Schichten haben ihre Berechtigung –
in Deutschland etwa der Bund genauso wie die Länder, die Kommunen, die Landkreise. Sie brauchen eigene Entscheidungsspielräume, sonst verlieren die Menschen das Gefühl der Überschaubarkeit, Kontrolle und Selbstbestimmung. Der gefährliche Populismus ist überall dort stark, wo die Menschen glauben, keine Rolle mehr zu spielen und politisch und kulturell abgehängt zu sein. Dort wehren sich die Menschen. Also braucht es auch in einem souveränen Europa weiterhin autonome Regionen und Nationalstaaten.
Ein Blick in die Glaskugel: Wie werden sich der Brexit, Großbritannien und die EU entwickeln?
Ich denke, es wird einen harten Brexit geben, gefolgt von Nachverhandlungen. Es ist nicht auszuschließen, dass Großbritannien irgendwann wieder Teil der EU wird. Allerdings wird dies eine andere Union sein: eher eine Kern-Union aus Deutschland, Frankreich, den Benelux-Staaten. Osteuropa wird souveräner sein wollen als der Rest Europas, also ein Europa der zwei Geschwindigkeiten.