Fast täglich gibt es Rückrufaktionen für einzelne Produke – doch oft bekommen wir sie gar nicht mit oder übersehen die Hinweise. Wie man es besser macht, zeigt ein Einzelkämpfer mit seiner Webseite: Gerd Kretschmann.
Oft ist es nur ein eng beschriebenes DIN-A4-Blatt mit einem verwaschenen Schwarz-WeißFoto, das im Ausgangsbereich des Supermarkts hängt – dort, wo der Kunde es eilig hat, wegzukommen. Darauf steht groß „Rückruf", dann folgt viel Text, ein paar Daten und Nummern – kaum jemand nimmt sich die Zeit, stehen zu bleiben und genau nachzulesen, wovor hier gewarnt wird.
Lebensmittelwarnungen und Rückrufaktionen in Deutschland – sie werden immer noch ziemlich nachlässig gehandhabt. Erst Mitte Februar appellierten Verbraucherschützer an den Handel, „konsequenter und einheitlicher" über Lebensmittelwarnungen zu informieren. Eine Umfrage von Foodwatch, der Verbraucherzentrale Hamburg und der Betreiber der Webseiten „Rückruf-Portal Deutschland" und „Produktwarnung" ergab, dass bei einem Großteil der befragten 35 Handelsunternehmen Warnungen zum Schutz ihrer Kunden „offenbar keine Priorität" haben. Denn 66 Prozent des Handels antworteten gar nicht auf die Nachfragen der Verbraucherschützer. Außerdem warne jeder Anbieter anders, es gebe keine Mindeststandards und keine einheitlichen Regeln. Kein Unternehmen nutze alle verfügbaren Medien, also auch E-Mail, soziale Medien, Firmenwebseiten, Blogs oder Newsletter.
Zwei bis drei Mal die Woche wird allein vor gefährlichen, verunreinigten oder auf andere Weise schädlichen Lebensmitteln gewarnt. Aktuell warnt zum Beispiel die Seite „Produktrückrufe.de" vor Metallsplittern in Maiswaffeln von Rossmann, einer mit Bakterien belasteten Rotwurst von Aldi oder Glassplittern in Gewürzmühlen von Lidl. Diese Webseite wird von Gerd Kretschmann betrieben. Das Portal hat er vor zwölf Jahren gegründet. Die Idee kam ihm, als sein fast neuer Fernseher anfing zu qualmen. Er konnte noch rechtzeitig den Stecker ziehen, bevor ein Brand ausbrach. Gewarnt hatte ihn niemand. Aber als er sich die Internetseite des Herstellers ansah, entdeckte er, dass dort in einer kleinen Notiz auf ein defektes Bauteil hingewiesen wurde, das man austauschen sollte.
„Wer kommt denn schon darauf, sich die Internetseite eines Herstellers genau anzusehen? Das muss öffentlich gemacht werden", sagt er. Und so sitzt der 60-jährige Pensionär – bei der Bundeswehr konnte er früh gehen – jeden Tag am PC in seinem Büro im Keller seines Hauses in Greven an der Ems und durchforscht das Internet nach Rückrufen. Die Meldungen kommen von RASFF und RAPEX, dem Schnellwarnsystem der EU, von den großen Herstellern oder von den Handelsketten. „Bei Edeka, Netto und Penny bin ich mittlerweile offiziell im Verteiler", sagt er. Mit seinen Warnungen ist der Einzelkämpfer manchmal schneller online als das Portal Lebensmittelwarnung.de, das die Bundesländer und das Bundesamt für Verbraucherschutz 2011 ins Leben gerufen haben. „Wenn es um Kolibakterien oder Salmonellen geht, zählen Tage und Stunden", betont Kretschmann. „Die Behörden lassen sich manchmal zwei bis sieben Tage Zeit, bis sie reagieren." Das mag daran liegen, dass sie erst prüfen wollen, bis sie sich entscheiden, oder es ist ganz einfach das Freitagsproblem: Wenn die Behörden am Freitagnachmittag oder kurz vor einem Feiertag eine Warnung auf den Tisch bekämen, dauere es immer bis nach dem Wochenende, bis diese online ist. „Das ist ärgerlich, weil die Leute ja am Samstag einkaufen gehen – und da müssen sie doch wissen, ob eine Warnung vorliegt. Bei mir erfahren sie es direkt." Mittlerweile zähle er die Besucher seiner Internetseite nicht mehr, aber es müsste eigentlich eine sechsstellige Zahl im mittleren Bereich sein.
Der Handel ist die Schwachstelle bei den Warnungen
Die eigentliche Schwachstelle ist der Handel. Zwar ist jeder Hersteller per Gesetz verpflichtet, ein Lebensmittel öffentlich zurückzurufen, wenn davon eine Gesundheitsgefahr ausgeht. Doch viele Verbraucher erfahren nichts davon, weil laut Foodwatch die Supermärkte bisher nicht verpflichtet sind, die Kunden schnell und umfassend an zentraler Stelle über alle Rückrufaktionen aus ihrem Sortiment zu informieren. „Mit ihrer mangelhaften Informationspolitik machen sich Handelsunternehmen mitschuldig an vermeidbaren, teils schweren Erkrankungen", klagt Martin Rücker, Geschäftsführer von Foodwatch, und fordert: „Ministerin Julia Klöckner muss dem Handel vorschreiben, Lebensmittelwarnungen immer und auf allen Kanälen zu verbreiten." Immerhin gibt es mittlerweile eine App: Lebensmittelwarnung.de zum Download fürs Handy.
Dabei ist die Zahl der öffentlichen Lebensmittelwarnungen weiter gestiegen. Im Jahr 2017 warnten die Behörden in Deutschland auf dem staatlichen Internetportal lebensmittelwarnung.de 161 Mal vor Lebensmitteln – das ist noch einmal rund zehn Prozent häufiger als im Jahr 2016 (147 Einträge auf lebensmittelwarnung.de). Vor fünf Jahren war die Zahl der Meldungen gerade einmal halb so hoch, wie eine Auswertung durch Foodwatch ergab. Nicht eingerechnet ist dabei der „stille Rückruf". Das sind Rücknahmen, die ohne Ankündigung erfolgen, also ohne dass die Öffentlichkeit davon erfährt. Insider sagen, das passiere häufig dann, wenn geringe Belastungen entdeckt wurden oder „kleinere" Verunreinigungen, die nicht unbedingt als gesundheitsgefährdend gelten.
Dass es heute so viele Warnungen mehr sind, liegt zum Teil auch an den besseren Kontrollen und an einem Bewusstseinswandel bei Herstellern und Verbrauchern. „Vor zehn Jahren", erinnert sich Kretschmann, „hat man doch kaum über so etwas geredet, da gab es keine Aushänge und Warnhinweise." Heute möchte sich niemand Vertuschen und Verstecken nachsagen lassen. Auch der Handel hat dazugelernt. Vorbildlich findet Kretschmann, wie die dm-Märkte auf Produktrückrufe aufmerksam machen: Hinweisschilder an der Kasse, am Regal, wo das Produkt stand, am Eingang. Auch Aldi plakatiere ganz gut, findet er. „Und Ikea nutzt daneben auch noch Facebook und Twitter, was sonst kaum einer tut."