Bordelle sprießen in Deutschland an der Grenze zu Frankreich ständig aus dem Boden. Der Grund: Franzosen dürfen qua Gesetz keinen Sex kaufen, während Deutschland Prostitution als Beruf anerkennt. Eric Poncelet setzt sich seit Jahren für Prostituierte in Frankreich ein und prangert nun das deutsche System an.
Die Prostitution in Frankreich unterscheidet sich stark von der in Deutschland – rechtlich gesehen. Mit dem Prostitutionsgesetz von 2002 und dem Prostituiertenschutzgesetz von 2017 hat sich Deutschland entschieden, die Prostitution als eigenen Beruf anzuerkennen und zu reglementieren. Frankreich hingegen beschloss 2016, die Prostitution abzuschaffen, Zuhälter und Kunden zu bestrafen. Seither blüht der Prostitutionstourismus in der deutsch-französischen Grenzregion. Eric Poncelet vom gemeinnützigen „Mouvement du Nid" setzt sich für Prostituierte in Frankreich ein: Den deutschen Versuch einer gesetzlichen Regelung sieht er als gescheitert an.
Herr Poncelet, Frankreich bestraft die Zuhälter und Kunden, Deutschland geht einen völlig anderen Weg. Stehen diese Systeme also in komplettem Widerspruch?
In Europa gibt es drei verschiedene Systeme: die Prohibitionisten (Verbot der Prostitution, Anm. d. Red.) vor allem in den ehemals kommunistischen Ländern, die Abolitionisten (Abschaffung von Ausbeutung) wie in Frankreich und die Reglementaristen (gesetzliche Regelung des Marktes), zum Beispiel in Deutschland. Reglementaristische Systeme, wie sie seit 2001 in den Niederlanden oder seit 2002 in Deutschland existieren, behaupten, die Exzesse der Prostitution zu bekämpfen. Die Vertreter dieses Ansatzes sind der Ansicht, dass es die Prostitution schon immer gegeben hat und auch weiterhin geben wird. Ihr Konzept: Um dieses Phänomen zu bekämpfen, müssen wir es regulieren, den Missbrauch einschränken und die Bevölkerung vor der Ausbreitung sexuell übertragbarer Krankheiten schützen.
Wie sieht es mit der Umsetzung aus?
Heute, im Jahr 2018, können wir die Situation in den Niederlanden und Deutschland mit genügend Abstand einschätzen, um dieses System als Misserfolg zu betrachten. Auch Polizeibeamte wie Manfred Paulus aus Stuttgart und Helmut Sporer aus Augsburg, Leiter der Kriminalpolizei und Experte beim Europäischen Parlament, bestätigen dies. In Deutschland haben die Mafiosi mehr oder weniger die Kontrolle über die Prostitution übernommen. Dies haben sie oft mithilfe von Strohmännern oder -frauen geschafft, die die Bordelle offiziell leiten. Unter der Hand werden diese Einrichtungen aber von der Mafia gehalten. Vor allem derjenigen vom Balkan (Bulgarien, Rumänien, Albanien) oder aus den Ländern der früheren UdSSR (Russland und Ukraine im Großraum Berlin und Ostdeutschland).
Halten Sie das französische System der Abolition für das Beste?
Kein System ist perfekt. Aber meiner Meinung nach ist dies das umfassendste. Das französische Gesetz geht alle Probleme rund um die drei wichtigsten Akteure der Prostitution an: Kunden, Prostituierte und Zuhälter. Dieses neue Gesetz verstärkt zwar den Kampf gegen Zuhälter, hinterfragt aber auch die Rolle der Kunden. Sie wissen, dass sie mit Geldstrafen belegt werden können. Außerdem beinhaltet das neue Gesetz die Teilnahme an Informationskursen, ähnlich dem Präventionsmodell für den Straßenverkehr.
Wir wissen, dass in Grenzregionen viele Freier aus Frankreich kommen. Ist bekannt, wie viele französische Frauen sich dort prostituieren?
Viele Prostituierte aus Ostfrankreich haben auf deutscher Seite Erfahrungen gesammelt. Aber sehr schnell waren sie wieder zurück und meinten, dass sie sich dann doch lieber in Frankreich auf die Straße stellen. Nach ihren Aussagen herrschen in deutschen Bordellen unvorstellbare Zustände. Die Kunden kennen überhaupt keine Grenzen mehr. Sie verlangen und bekommen alles, zum Beispiel ungeschützten Sex, und sind sehr gewalttätig. Die Frauen müssen alles akzeptieren, da sie Angst haben, rausgeworfen zu werden. Im Übrigen ist die Straßenprostitution in Deutschland keineswegs verschwunden. Im Gegenteil. Immer wenn in einem Land ein reglementaristischer Ansatz umgesetzt wird, tauchen überall neue Bordelle auf. Diese treten nicht an die Stelle der bereits bestehenden Prostitution, sondern vergrößern das Angebot noch einmal.
Wie viele französische Freier kommen in die Grenzregion nach Deutschland?
Das ist schwer zu sagen, aber nach unseren Informationen machen die französischen Freier in den Grenzregionen etwa die Hälfte der Kundschaft aus. In den drei an Frankreich angrenzenden Bundesländern dürfte es knapp 15.000 Prostituierte geben, bei einer Bevölkerung von 15 Millionen. Französische Kunden finden jenseits der Grenze eine riesige Anzahl an Prostituierten, vor allem sehr junge. Mit diesen können sie alle ihre Launen und Fantasien ausleben, wie Szenen aus sehr harten, wenn nicht sogar extremen Pornofilmen, die sie im Internet finden. Für diese Freier gibt es keine Grenzen.
Warum akzeptieren Frauen so etwas?
Das sind Frauen aus Bulgarien, Rumänien, Ukraine, Russland, aber auch Thailand, Kolumbien und zunehmend aus afrikanischen Ländern. Diese Frauen sind offensichtlich nicht alleine nach Deutschland gelangt und werden von Mafia-Netzwerken kontrolliert. Laut einer Studie, die wir in den grenznahen Bundesländern durchgeführt haben, stammen 90 Prozent aus dem Ausland. Und das ist natürlich kein Zufall. Die Deutschen können mit diesem System zufrieden sein: Schließlich sind es nicht ihre eigenen Töchter, die sich in diesen Bordellen wiederfinden.
Warum hat der französische Markt für organisierte Zuhälter-Netzwerke an Attraktivität verloren?
Auch wenn wir mit einer solchen Aussage vorsichtig bleiben müssen, erklärt sich dies dadurch, dass in Frankreich dank des Gesetzes von 2016 die Repression gegen Zuhälter einerseits verstärkt wurde und andererseits der Kundenkreis zurückgegangen ist. Insgesamt wird deutlich, dass Frankreich ein neo-abolitionistisches Land geworden ist. So wie Schweden, Norwegen und Island. Für organisierte Netzwerke ist es nicht mehr interessant, Prostituierte beizuschaffen. Schließlich gibt es in Frankreich einen Gesetzesartikel – wahrscheinlich der weltweit umfangreichste – der alle Formen der Zuhälterei definiert und bestraft: in organisierter Form mit Mafias oder aber als Loverboys oder sogar Hoteliers. Das wirkt natürlich sehr abschreckend.
Wie war vor 2016 die Rechtslage in Frankreich?
Früher konnte eine Prostituierte wegen – aktiver oder passiver – Anwerbung verfolgt werden. Heute gibt es dieses Delikt nicht mehr. Die Frauen werden von den Behörden nicht mehr als Täter betrachtet. Wenn früher eine Prostituierte Anzeige erstattete, wurde sie nicht ernst genommen. Vor Kurzem wurde im Département Moselle eine Prostituierte vergewaltigt, die auf dem Straßenstrich ins Auto gestiegen war. Sie erstattete Anzeige. Die Gendarmerie tat alles, um die Vergewaltiger zu finden. Sie sitzen derzeit in U-Haft und sollen nächstes Jahr vor dem Schwurgericht stehen. So etwas ist völlig neu. Von nun an wissen Prostituierte, dass sie Rechte haben und die Freier sich nicht alles erlauben können. Der Freier verstößt gegen Gesetze. Sie hingegen nicht.
Hat sich in Frankreich mit dem neuen Gesetz die Situation für Prostituierte verbessert?
Infolge des Gesetzes von 2016 und der damit verbundenen Begleitprogramme haben einige „traditionell arbeitende" Frauen im Alter zwischen 48 und 55 Jahren sowie Prostituierte aus dem Ausland und Transgender das Angebot angenommen und sich entschieden, aus der Prostitution endgültig auszusteigen. Bislang fehlte ein solcher Anreiz. Das französische Gesetz und die damit einhergehenden Debatten haben zu einem Bewusstseinswandel geführt. Man hat sich für ein Gesellschaftsmodell entschieden, in dem eine Vermarktung des menschlichen Körpers abgelehnt wird, in dem Prostituierte nicht mehr als Objekte betrachtet werden. Dieses Gesetz bietet ihnen gewisse Zukunftsperspektiven.
Erscheint Ihnen Deutschland nun rückständig?
Deutschland hat ein reglementarisches System ausprobiert, das völlig gescheitert ist. Keins der ursprünglichen Ziele wurde erreicht.
Das deutsche Gesetz soll aber die Prostituierten schützen.
Für Zuhälter und Puffmütter ist das reglementaristische System in Deutschland perfekt. Sie sind die wahren Gewinner. In Deutschland spricht man ja inzwischen schon von „Sexmanagern". Das ändert aber nichts daran, dass es sich um Zuhälter handelt. Nach Aussage von Experte Helmut Sporer haben sich in diesen zwölf Jahren (2002 bis 2014) in ganz Deutschland gerade einmal 44 Prostituierte bei den zuständigen Stellen registrieren lassen.
Hat man sich also in Deutschland mit der Prostitution abgefunden?
In Deutschland lautet das Schlüsselwort Konformismus. Solange das Phänomen nicht überhandnimmt, solange die Prostitution hinter Mauern verborgen bleibt, tun wir so, als sei alles in Ordnung. Für mich gehören viele Politiker sowohl in Deutschland als auch in Frankreich einer Generation an, die sich ihr Leben lang mit der Prostitution abgefunden hat. Viele junge Frauen in Deutschland oder Frankreich ertragen es inzwischen aber nicht mehr, dass es in ihren Ländern sexuelle Ausbeutung gibt. Auch wenn sie selbst mit der Prostitution kaum etwas zu tun haben. Mit den neuen Generationen kommen die Dinge in Bewegung: Gewalt gegen Frauen ist inakzeptabel, ob auf der Straße oder im Bordell.
In welchem Land werden zuerst die Prostituierten verschwinden – in Deutschland oder Frankreich?
Im Gegensatz zu den Prohibitionisten haben wir nie die Ausrottung der Prostitution gefordert, sondern nur ihre Abschaffung. Irgendwann wird es in Frankreich weniger geben. Derzeit gibt es in Frankreich etwa 37.000 Prostituierte, in Deutschland wird ihre Zahl auf knapp 100.000 geschätzt. Von Schweden haben sich die Mafiabanden abgewendet, auch weil dort nicht alles perfekt für sie ist. Der Handel mit Mädchen aus dem Osten und die Prostitution von Nigerianerinnen sind verschwunden. Warum? Weil Schweden für Mafia und Zuhälter uninteressant geworden ist. Infolgedessen ist die Zahl der Prostituierten deutlich zurückgegangen. Hoffen wir, dass es eines Tages in Frankreich auch so sein wird – und warum eigentlich nicht auch in Deutschland?
Glauben Sie, dass die Prostitution in Frankreich noch zu Ihren Lebzeiten verschwinden wird?
Seit elf Jahren bin ich Mitglied der Bewegung NID. Ich hätte nie gedacht, dass die Prostitution in Frankreich abgeschafft werden würde. Doch es ist passiert. Aber seien wir realistisch: Es wird mindestens eine oder zwei Generationen dauern, bis sich so etwas in den Köpfen durchgesetzt hat und kein Mann mehr auf die Idee kommt, den Körper einer Frau kaufen zu wollen. Vor der Verabschiedung des Gesetzes war es vor allem in unseren Grenzregionen für junge Kerle durchaus eine Option, ins Bordell zu gehen und sich eine Prostituierte zu „leisten". Heute, nachdem das Gesetz verabschiedet wurde, haben sowohl Mädchen als auch Jungen verstanden, dass Frankreich ein abolitionistisches Land geworden ist und dass der Körper eines Menschen nicht zum Verkauf steht.
Eric Poncelet wollte für dieses Interview nicht fotografiert werden. – Anm. d. Red.