Die Art und Weise, wie und wie häufig ein Mensch geht, lässt einige Aussagen zu – über seine körperliche Gesundheit, seine geistige Leistungsfähigkeit und in Teilen sogar darüber, wie emotional stabil oder introvertiert er ist.
Die Liebe zum Laufen liegt Michael Binanzer in den Genen. Sein Vater war Jäger und zeigte dem Sohn die Wälder. Und sein Onkel legte nach der Rückkehr aus der Kriegsgefangenschaft den gut 430 Kilometer langen Weg vom Dresdner Bahnhof in die Heimat nach Bayerisch-Schwaben zu Fuß zurück. „Wenn nichts anderes mehr geht, musst du eben gehen", sagt Binanzer, einst Leichtathletik-Spitzensportler. In der Sportfördergruppe der Bundeswehr wurde er als Gebirgsjäger ausgebildet und legte kilometerlange Märsche in voller Montur über die Schwäbische Alb zurück – „im strengsten Winter, dort, wo heute die Wasserbüffel grasen", wie er erzählt.
Binanzer ist einer, den man getrost als Experten für den menschlichen Gang bezeichnen kann. Er studierte Sportwissenschaften und Geografie und arbeitet seit vielen Jahren als Verkaufsberater für Sportschuhe in Stuttgart. 2004 rief er den witterungsunabhängig wöchentlich stattfindenden „SportScheck"-Lauftreff ins Leben. Es ist nicht der erste, den er organisiert hat. In seiner aktiven Zeit als Leistungssportler brachte er es auf wöchentlich zwölf Trainingseinheiten, heute läuft er noch zwei- bis dreimal pro Woche, am liebsten zusammen mit anderen. Er bezeichnet sich als „Beweger" und spricht von einer geistigen Haltung. Denn: „Bewegung erweitert den Horizont."
Damit liegt er auf einer Linie mit Klaus Jahn, dem neurologischen Chefarzt der Schön Klinik Bad Aibling und Leiter der Neuro-Rehabilitation am Deutschen Schwindel- und Gleichgewichtszentrum der Ludwig-Maximilians-Universität München. „Wer viel geht, senkt das Risiko, im Alter dement zu werden. Umgekehrt sind Menschen, die geistig fit bleiben, auch körperlich aktiver", sagt Jahn, der gemeinsam mit dem Neurowissenschaftler Thomas Brand seit Jahren den menschlichen Gang erforscht. Aktuelle Fragestellung: Wie kann man Menschen mit neurodegenerativen Krankheiten wie zum Beispiel Alzheimer, Personen mit Störungen der Sinnesorgane oder Schlaganfallpatienten das Gehen erleichtern? Deren Gehirn könne sich nämlich nicht so einfach darauf einstellen, wenn ein Weg plötzlich enger wird oder sich die Oberflächenstruktur ändert. Selbst Bordsteine können zum Fallstrick werden. „Gesunde Menschen stellen sich mehrere Schritte vorher darauf ein, bald den Fuß heben zu müssen. Bestimmte Patientengruppen können das nicht", erklärt Jahn. Erleichterung könnte in einigen Jahren in Form kleiner Apparate hinterm Ohr kommen, die durch einen leichten Stromreiz unterhalb der Wahrnehmungsgrenze einen Impuls an die Nerven senden und so einen drohenden Sturz verhindern.
Senkt das Demenz-Risiko
Die Gangart reizt das Forschungsduo aus zwei Gründen. Erstens wegen der wechselseitigen Beziehungen mit dem Gehirn. Das Grundgangmuster von Menschen ist im Rückenmark festgelegt und ein ganzes Netzwerk in Hirn und Rückenmark sorgt dafür, dass selbst Neugeborene automatisch Laufbewegungen ausführen, sobald man sie mit den Füßen auf eine Unterlage stellt. Und zweitens, „weil sich über die Motorik wahnsinnig viel ablesen lässt zur generellen Gesundheit eines Menschen". Und nicht nur das: Auch Schlüsse auf die Persönlichkeit lassen sich durch die Art, wie er geht, ziehen. Gesundheitspsychologen und Mediziner aus Montpellier und Tallahassee (Florida) veröffentlichten 2017 eine Studie zur Schrittgeschwindigkeit von 15.000 US-Amerikanern zwischen 25 und 100 Jahren. Ergebnis: Probanden, die in Persönlichkeitstests emotionale Stabilität und Gewissenhaftigkeit bewiesen, haben eine höhere Schrittgeschwindigkeit als neurotische oder introvertierte Untersuchte.
Klaus Jahn vergleicht den individuellen Gang eines Menschen sogar mit seinem Fingerabdruck. „In Zeiten der Kameraüberwachung lässt sich fast genauso exakt feststellen, welche Person sich da bewegt wie mit einer Gesichtserkennung", sagt er. Wobei die Art des Gehens freilich auch der Stimmung unterworfen sei. Sprich: Bei guter Laune laufe man anders als bei Müdigkeit.
Auch Michael Binanzer weiß aus Erfahrung: „Der Gang ist so individuell wie die Augenfarbe oder die Nasenlänge" – und fügt schmunzelnd hinzu: „Zum Glück laufen die meisten aufrecht." So weit, von der Gangart auf den Charakter zu schließen, möchte er zwar nicht gehen, „das ist mir zu deterministisch gedacht". Aber wenn er in seinem Berufsalltag Gang- und Laufanalysen macht, „kann ich den Leuten auf den Kopf zusagen, wie ihr Leben abläuft, oder besser: absitzt." Wer sich zu wenig bewegt und zu häufig vor dem Computer sitzt, bereue es über kurz oder lang. „Da schwächt sich dann die Pomuskulatur ab und das zeigt sich in der Wirbelsäule."
In solchen Fällen kommen Spezialisten wie Julia Weh ins Spiel. Die Sportwissenschaftlerin führt im Stuttgarter Sanitätshaus Carstens Haltungs- und Bewegungsanalysen durch. Schon immer fasziniert von den Prozessen und Bedingungen menschlicher Bewegungen, schrieb sie ihre Diplomarbeit über 3-D-Analysesysteme. Ihr Job ist es, Ursachenforschung zu betreiben. „Wer zu mir kommt, hat meistens schon Probleme", sagt sie. Probleme, die auf Übergewicht, mangelnden Ausgleich vom Bürojob oder genetisch bedingte Fehlstellungen von Knochen und Gelenken zurückzuführen sind – oder, „vor allem bei Damen", auf zu kleine Schuhe.
Keine Flip-Flops oder Ballerinas
Wehs Ursachenforschung beginnt mit einer Befragung des Patienten. Sie macht Abdrücke von den Füßen, prüft mithilfe einer Messplatte die Druckverteilung der Füße, forscht nach muskulären Ungleichgewichten und Blockaden. „Wirbelsäule, Schulter, Kiefer – es gibt fast nichts, was wir nicht vermessen", sagt sie. Normgerecht und stabil ist der Gang, wenn Sprunggelenk, Knie und Becken in einer Achse sind und der Oberkörper entsprechend mitarbeitet. Einlagen können helfen, eine Balance wiederherzustellen, weil sie den Fuß gut betten. Von Flip-Flops oder Ballerinas hingegen rät Weh ab. „Mit denen rumzulaufen ist so ziemlich das Schlimmste, was du deinem Fuß antun kannst." Denn es sei die Aufgabe des Schuhes, die Füße zu tragen, nicht umgekehrt.
Wer sich so intensiv wie sie mit dem gesunden Gehen beschäftigt, nimmt sein fachmännisches Auge natürlich auch in den Feierabend oder ins Wochenende mit – und bekommt zuweilen das Grauen. „In meinem Freundeskreis sind einige Physiotherapeuten und Heilpraktiker. Wenn wir wandern gehen, haben wir uns schon überlegt, ob wir Visitenkärtchen mitnehmen und verteilen sollen", scherzt sie. Auch „Germany’s Next Topmodel" kann sie sich ruhigen Gewissens nicht anschauen. Der extreme Laufsteg-Gang mit gekreuzten Schritten und gekipptem Becken ließe jeden Bewegungsanalytiker schaudern. „Es wundert mich, dass ich hier keine Models habe."
Mirko Wolf kann das nachvollziehen, zumindest in Teilen. „Das Modeln ist generell ein ungesunder Job", sagt der Mann, der mehrere Jahre selbst auf Laufstegen zu Hause war und mittlerweile als Booker und Social-Media-Manager im Berliner Büro der Agentur Paragon Models sitzt. Aber der Catwalk sei ja kurz. „In meiner Karriere war ich insgesamt nicht mal einen Kilometer auf dem Laufsteg unterwegs. Und ich bin viel gelaufen."
Etwa 15 Stunden Laufstegtraining stehen für neue Models zu Beginn ihrer Karriere auf dem Lehrplan. „Der Rest ist Learning by Doing" – und Eingehen auf die Wünsche der Designer. „Ich sollte mal tollpatschig und lustig laufen, dann wieder cool, mal auf Augenhöhe mit dem Publikum und mal völlig unnahbar", erinnert sich Wolf. Für Frauen ist der Job freilich herausfordernder: Chanel ließ seine Models jüngst in hohen Schuhen durch knöcheltiefes Wasser auf Sand laufen. Aufwendige Kostüme erleichtern es nicht gerade, grazil zu erscheinen. Manche Schlauchröcke etwa lassen nur kleine Trippelschritte zu. Dennoch: „Es gibt viele Naturtalente", sagt Wolf.
Jede Möglichkeit nutzen, zu gehen
Und setzt sich, wer beruflich so intensiv mit dem Gehen beschäftigt ist, auch mit dem persönlichen Alltagsgang auseinander? „Ja", sagt Mirko Wolf. „Ich laufe meistens zu schnell, will wie ein warmes Buttermesser durch die Menge. Das sollte ich wohl abstellen."
Sich die eigene Gangart bewusst machen und jede Möglichkeit nutzen, um zu gehen oder zu laufen, ist nach übereinstimmender Überzeugung der Gangexperten ein Schlüssel zu mehr Gesundheit. „Wer Herausforderungen im Alltag mit dem Köper angeht, bleibt länger fit", sagt der Neurologe Klaus Jahn. Sein Beispiel: die Treppe nehmen statt den Aufzug. „So etwas ist effektiver als so manches Training."