Die Gewalt auf deutschen Straßen nimmt immer mehr zu
Es war ein trüber Abend mit Nieselregen und Nebelschwaden, als wir über eine Landstraße nach Hause fuhren. Wir hielten uns mit exakt 70 km/h an das angezeigte Tempolimit, zumal nasses Laub die Fahrbahn bedeckte. Dennoch wurde diese Landstraße für uns fast zu einem „Highway to hell". Hinter uns blendete jemand auf, riss den Wagen herum, hupte wie wild und scherte kurz vor uns wieder ein. Mit schätzungsweise 120 km/h brauste dieser nette Mitmensch davon.
Dieser und ähnliche Vorfälle animierten uns, einige Kenntnisse aus früherer Studienzeit der Sozialwissenschaften aufzufrischen. Was treibt solche Menschen an, völlig rücksichtslos durch die Gegend zu brettern? Es werden nicht nur Wettrennen in Innenstädten veranstaltet, wie im Februar 2016, als zwei Fahrer mit 160 Stundenkilometern über den Berliner Kurfürstendamm rasten. Dabei wurde ein Wagen gerammt, dessen Fahrer am Unfallort starb. Der Bundesgerichtshof hob das erste Urteil – lebenslange Freiheitsstrafe – auf. Ein bedingter Tötungsvorsatz sei nicht ausreichend belegt, meinten die Karlsruher Richter.
Auch ohne Wettrennen treiben jede Menge Verkehrs-rowdys auf Deutschlands Straßen ihr Unwesen. Es ist mittlerweile erwiesen, dass es sich vornehmlich um männliche Täter handelt, die Defizite kompensieren wollen und denen Strafen egal sind. Ein normal fahrender Zeitgenosse, der sie aufhält, wird als persönliche Kränkung empfunden.
Der Gießener Sozialwissenschaftler Götz Eisenberg, dem als jahrzehntelanger Gefängnispsychologe solche Typen begegnet sind, schreibt in einem Beitrag für die „Nachdenkseiten" von „lackierten Kampfhunden". Das Auto sei eine männliche Selbstwertprothese. Die Kraft der Motoren entscheide über den Status: je stärker und lauter, desto männlicher. Solche Autos fungieren als Viagra des männlichen Stolzes, schreibt er.
Nun sind wir mit Sicherheit keine Auto-Hasser, nutzen das Gefährt gern, um von A nach B zu kommen. Da wir bewusst keine Potenzprobleme haben, brauchen wir auch keinen Geländewagen, keinen SUV oder eine Pick-up-Karre. Aber der steigende Absatz dieser Ungetüme zeugt davon, dass „Krieg auf den Straßen" (Eisenberg) herrscht. Die Weltgesundheitsorganisation WHO berichtet, dass diesem Krieg jährlich 1,5 Millionen Menschen zum Opfer fallen.
Wenn wir den Straßenverkehr als Gradmesser dafür nehmen, wie zivilisiert eine Gesellschaft ist, dann sieht es nicht gut für Deutschland aus. Kein Wunder, dass der ADAC, der mit seinen „gelben Engeln" oft hilfreich ist, sich Anfang der 80er-Jahre mit dem Slogan „Freie Fahrt für freie Bürger" mit Unterstützung der Kohl-Regierung durchsetzte. Vor 20 Jahren wollte ein Raser gegen Tempo-Beschränkungen prozessieren. Die Klage wurde verworfen, weil der Kläger eines Morgens mit zu hoher Geschwindigkeit kurz vor Luxemburg ins Schleudern geriet, ihm seine Aktentasche ins Genick fiel und er auf der Stelle tot war.
Statt sinnvolle Pläne für den Verkehr zu entwickeln, wird weiter aufgerüstet. Innerstädtischer Verkehr mit verstärktem ÖPNV wäre sicher auch für die Umwelt gut. Hingegen proklamierten die CSU-Politiker Dobrindt und Söder gleich Anfang dieses Jahres, ihre Partei werde 2019 zum „Jahr des Autos" machen.
Natürlich geht es auch um Arbeitsplätze in Standorten wie München, Stuttgart, Köln, Leipzig oder Saarlouis. Vor etwa 150 Jahren wollten Maschinenstürmer die Industrialisierung verhindern. Das misslang. Noch einmal: Gefragt ist nicht die Verteufelung des Autos, sondern Vernunft. Da diese Vernunft von Verkehrsrüpeln nicht zu erwarten ist, sind wir für härteres Durchgreifen bei Verstößen.
Die Realität sieht leider so aus: Kommt bei einer Raserei niemand zu Schaden, handelt es sich um eine Ordnungswidrigkeit, die mit einer Geldstrafe oder einem befristeten Führerscheinentzug geahndet wird. Erst wenn ein Todesopfer zu beklagen ist, gibt es in der Regel fünf Jahre Knast.
Milde ist nicht angesagt. Wer unbedingt Schumi oder Vettel spielen will, sollte sich woanders austoben. Empfehlung: auf einer Kirmes in Auto-Scootern.