Der vor 20 Jahren verstorbene Yehudi Menuhin gilt als größtes musikalisches Wunderkind des 20. Jahrhunderts und wurde schon in früher Jugend als bester Violinspieler des Planeten gefeiert. Aber auch als Vorkämpfer für Frieden und Humanismus bleibt er unvergessen.
Mozart, Mendelssohn-Bartholdy und Menuhin gelten als die musikalischen Wunderkinder des 18., 19. und 20. Jahrhunderts. Doch als der Violin-Virtuose Yehudi Menuhin vor 20 Jahren im Alter von knapp 83 Jahren am 12. März 1999 in Berlin infolge einer Lungenentzündung starb, lagen die glorreichen Zeiten des Geigengenies schon lange zurück. Bereits in den 70er-Jahren hatte seine zweite Ehefrau Diana Gould, eine ehemalige Primaballerina, die Menuhin 1947 nach der Trennung von seiner ersten Gattin Nola Nicholas geheiratet hatte, offiziell das Ende seiner Musikerkarriere bekundet: „Mein Mann ist kein Musiker mehr, er ist eine Institution." Womit sie auf die messianische Mission des polyglotten Weltbürgers Menuhin anspielte, der seit 1970 die schweizerische und seit 1985 zusätzlich die britische Staatsbürgerschaft besaß und der sich in seiner zweiten Lebenshälfte zu einem nimmermüden Kämpfer für Frieden und Selbstbestimmung entwickelt hatte – zum „Sendboten eines weltumspannenden Humanismus, als Gottvater aller Gutmenschen", wie es der „Spiegel" einst trefflich formuliert hatte.
In seiner 1976 veröffentlichten Autobiografie „Unvollendete Reise" hatte Menuhin sein großes sozial-politisches Engagement folgendermaßen begründet: „Kein Musiker darf stumpf vor sich hin fiedeln, wenn die Welt in Flammen steht." Und doch war Menuhin, der sich beispielsweise in der Sowjetunion für Alexander Solschenizin einsetzte oder als gebürtiger Jude die Aggression des Staates Israel gegen die Palästinenser scharf verurteilte, diesbezüglich eine Ausnahmeerscheinung. Der „Spiegel" ging sogar so weit, dem mit Orden, der Aufnahme in den britischen Adelsstand und Ehrenbürgerwürden geradezu überhäuften und stets ein warmes Charisma ausstrahlenden Menuhin einen „Heiligenschein" zu konstatieren. Dazu passte das private Interesse des Vaters von vier Kindern an der indischen Yogalehre, mit der er bereits 1951 in Kontakt gekommen war. Hinzu kam sein Verzicht auf Drogen jeglicher Art, kein Rauchen, kein Alkohol und seine bewusste Ernährung ausschließlich auf Basis von Naturprodukten. Er war sogar zeitweise Mitbesitzer eines frühen Londoner Ökoladens. Und er pflegte seinen Hass auf umweltverschmutzende Autos, weshalb er sich schon 1976 das erste Elektro-Auto Europas zugelegt hatte.
Ungewöhnliche Erziehungsmethoden
Bei all diesen Aktivitäten, zu denen auch noch diverse soziale Projekte wie die „Yehudi Menuhin Stiftung" zählte, darf natürlich nicht vergessen werden, welch gigantisches musikalisches Œeuvre der Jahrhundertgeiger geschaffen hat. Ein Großteil davon wird der Nachwelt dank einer 2016 zum 100. Geburtstag Menuhins veröffentlichten, 80 CDs umfassenden Monumental-Box für immer erhalten bleiben – beginnend von der ersten Londoner Aufnahme 1929 bis zur letzten Tonstudio-Einspielung aus dem Jahr 1988. Menuhins musikalisches Repertoire blieb von früher Jugend an von den drei großen Bs geprägt: Bach, Beethoven und Brahms. Die Werke von Max Bruch und Béla Bartók nicht zu vergessen. Berührungsängste zu anderen Genres jenseits der klassischen Musik waren bei Menuhin nicht vorhanden, wie seine Zusammenarbeit mit dem renommierten Jazzgeiger Stéphane Grappelli oder mit dem legendären Sitarspieler Ravi Shankar belegen.
Yehudi Menuhin wurde am 22. April 1916 in New York als erstes Kind von Moshe und Marutha Menuhin geboren. Beide Eltern waren Nachfahren chassidischer Rabbiner aus Weißrussland und hatten ihre Jugend vor der Auswanderung in die USA in Palästina verbracht. Neben Yehudi hatten sie auch noch zwei Töchter namens Hephzibah und Yaltah, die beide zu erstklassigen Pianistinnen werden sollten. Doch das Hauptaugenmerk der Familie, deren Lebensunterhalt der Vater anfangs noch durch eine Lehramtstätigkeit sichern konnte, lag auf dem erstgeborenen Sohn. Obwohl die Menuhins alles andere als strenggläubige Juden waren, weil sie sowohl den Sabbat als auch die jüdischen Feiertage ignorierten, war die Wahl des Namen Yehudi – „Der Jude" – doch eine direkte Kampfansage gegen den lokalen Antisemitismus. Er wurde aus Trotz gewählt, weil eine New Yorker Vermieterin die von den Menuhins erhoffte Wohnung partout nicht an jüdische Interessenten vergeben wollte.
Yehudi und seine beiden jüngeren Schwestern erlebten eine bizarre Erziehung. Sie waren komplett abgeschottet von der Umwelt, unter einer „Glasglocke", wie es Menuhin selbst mal bezeichnet hatte. Sie durften keine Schule besuchen und wurden vom Vater oder Privatlehrern in den heimischen Wänden unterrichtet. Sie hatten keinerlei Kontakte nach außen, blieben komplett unter sich. Erst nach seinem 18. Lebensjahr durfte Yehudi ohne Begleitung auf den Straßen New Yorks unterwegs sein. Zu seinem vierten Geburtstag bekam er eine blecherne Spielzeug-Geige geschenkt, die er laut einer von seinen Eltern verbreiteten Legende sofort zertrümmert haben soll, weil er dem Instrument keinen echten Klang entlocken konnte.
1.000 Pfund pro Auftritt als Zwölfjähriger
Mit fünf Jahren erhielt der inzwischen mit seiner Familie nach San Francisco umgezogene Yehudi seinen ersten Geigenunterricht und beherrschte die Violine bald perfekt. Allerdings wurde schon in dieser frühen Phase versäumt, dem Knaben das grundlegende geigerische Handwerkszeug mit dem fraglos nervenden Üben von Tonleitern, Dreiklängen oder Etüden beizubringen. Seine Lehrer ließen ihn stattdessen direkt auf die großen Werke der klassischen Musik los, womit das Wunderkind dank einer erstaunlich frühreifen Musikalität und eines traumhaft-intuitiven Spiels überhaupt keine Probleme hatte. Die damals übliche Teilnahme an Musik-Wettbewerben wurde von den Eltern verboten, was für Yehudi auch unnötig war, weil ihm schon im Alter von sechs Jahren von Medien wie dem „San Francisco Examiner" vorausgesagt wurde, „eines Tages ein Meister unter den Meistern seines Fachs zu werden".
Dank verschiedener Sponsoren mit Sidney Ehrman an der Spitze, der Menuhin Anfang 1926 auch seine erste wertvolle Geige stiften sollte, konnte sich die Familie den Unterricht beim Meisterviolinisten Louis Persinger leisten. Persinger ließ den jungen Yehudi im Februar 1924 erstmals als Solisten in einem Orchesterkonzert auftreten. Der „Examiner" war komplett aus dem Häuschen: „Das ist kein Talent, das ist ein Genie." 1926 wechselte Menuhin zur weiteren Perfektionierung seines Spiels in Begleitung der gesamten Familie, alles finanziert durch Mäzen Ehrman, nach Paris, wo ihn George Enescu unter seine Fittiche nahm. Es folgten die ersten Konzerte. Schon als Zwölfjähriger bekam Yehudi eine Gage von 1.000 Pfund pro Auftritt, mehr als ein Konzert pro Woche ließen die Eltern allerdings nicht zu. Die jährlichen Einkünfte beliefen sich schon damals auf 100.000 Pfund, womit Yehudi der bestbezahlte Geiger der Welt war.
Seinen bis dahin größten Triumph feierte er, inzwischen mit seiner ersten Stradivari, am 12. April 1929 in Berlin. In einer schier unmenschlichen Dauerleistung bewältigte er gleich drei Violinkonzerte von Bach, Beethoven und Brahms hintereinander, was den Amateurgeiger Albert Einstein zu dem Ausspruch bewegt haben soll: „Jetzt weiß ich, dass es einen Gott im Himmel gibt." Nachdem Yehudi seine Ausbildung ab 1930 auch noch bei Adolf Busch in Basel abgeschlossen hatte, begann er seine Karriere in den Konzertsälen rund um die Welt ‒ mit bis zu 200 Auftritten pro Jahr. Vor der Volljährigkeit mit 21 musste er jedoch auf Anweisung der Eltern in den Jahren 1936/1937 eine eineinhalbjährige Pause einlegen. Während des Zweiten Weltkriegs gab er mehr als 500 Konzerte vor den alliierten Truppen und trat als erster jüdischer Star-Musiker schon 1947 in Begleitung des wegen seiner NS-Verstrickung vielfach angefeindeten Dirigenten Wilhelm Furtwängler in München und Berlin auf.
Genialität der Jugendzeit erreichte er nie wieder
Danach holte ihn das frühere Versäumnis des kleinen Geigen-Einmaleins-Lernens heim. Die instinktsichere Souveränität der Kinder- und Jugendjahre war dahin. Die Basis-Techniken musste er sich in mühsamem Selbststudium beibringen und konnte sich erst 1953 wieder auf die Konzertbühne zurückmelden. Auch wenn ihm die „New York Times" damals bescheinigte, „ein völlig neuer Violinist" zu sein, so vertritt die Mehrheit der Musikkritiker doch inzwischen die Meinung, dass Menuhins Geigenspiel nach dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr an das Niveau der gloriosen 20er- und 30er-Jahre herangereicht hat. Mit seiner in den 60er-Jahren aufgenommenen Tätigkeit als Dirigent sollte er ohnehin nie unter die ganz Großen dieses Genres vorstoßen können.