Ob die Diskussion um Mord und Selbstbestimmung oder der frisch überarbeitete Paragraf zum Werbeverbot: Abtreibung bleibt ein heißes Thema. Doch im Medizinstudium kommt es quasi nicht vor. Eine Berliner Studentengruppe will das ändern. Alicia Baier, Gründerin der deutschen „Medical Students for Choice", erläutert die Hintergründe.
Frau Baier, Sie sind aktiv bei den „Medical Students for Choice" – wofür stehen Sie?
Die Medical Students for Choice (MSfC) sind eine Studierenden-Organisation, die ursprünglich aus den USA kommt und mittlerweile weltweit aktiv ist. Als Medizinstudierende setzen wir uns dafür ein, dass Schwangere selbst über ihren Körper entscheiden dürfen. Die deutsche Gruppe gibt es seit 2015. Wir kämpfen dafür, dass Schwangerschaftsabbrüche im Studium thematisiert werden, und zwar sowohl die medizinischen als auch die rechtlichen und ethischen Fragen.
Also kommen Schwangerschafts-abbrüche im Medizinstudium bis jetzt gar nicht vor?
Es ist schon verrückt. Schwangerschaftsabbrüche werden etwa 100.000 Mal pro Jahr durchgeführt und sind damit einer der häufigsten chirurgischen Eingriffe in Deutschland. Trotzdem hören viele im Studium gar nichts darüber.
Sondern?
Das wird häufig erst bei der Weiterbildung im Krankenhaus ein Thema, also im ersten oder zweiten Assistenzarzt-Jahr – das heißt, wenn die Klinik solche Eingriffe vornimmt. In vielen christlichen Krankenhäusern ist das ja nach wie vor nicht der Fall. Da lernt man dann höchstens, wie man eine Fehlgeburt absaugt.
Wie ist die Situation an der Charité Berlin, wo Sie studiert haben?
Schwangerschaftsabbrüche sind der einzige medizinische Eingriff, der im Strafgesetzbuch steht. Das hat natürlich auch Auswirkungen aufs Curriculum. An der Charité kommt das Thema nur ganz am Rande in einem Seminar zu Pränataldiagnostik vor. Auch an anderen Universitäten wird über Schwangerschaftsabbrüche häufig nur im Fach Medizinethik gesprochen, nicht aber im Fach Gynäkologie.
Was war für Sie der Auslöser, die deutsche Gruppe zu gründen?
Ich habe die Gruppe gegründet, nachdem ich bei einer feministischen Veranstaltung gewesen war. Dort hatte ich zum ersten Mal davon gehört, dass Schwangerschaftsabbrüche bei uns noch immer strafbar sind – ich wusste das gar nicht. Wie die meisten meiner Generation dachte auch ich, die Lage bei uns in Deutschland sei doch eigentlich ganz in Ordnung. Genau diese Einstellung ist aber gefährlich, denn die Versorgungslage in Deutschland ist überhaupt nicht gut. Viele Frauen wissen nicht, wohin sie sich im Ernstfall wenden können.
Wie wollen Sie die Charité dazu bringen, das Thema im Studium aufzugreifen?
Erst mal helfen wir uns selbst. Unsere bekannteste Aktion sind die sogenannten Papaya-Workshops. Die Früchte dienen als Gebärmutter-Modell, an dem man auch andere gynäkologische Eingriffe gut üben kann. In diesem Fall kommen erfahrene niedergelassene Gynäkologinnen zu uns und führen den Studierenden die Absaug-Methode vor. Aber es geht nicht nur um die Praxis. Wir sprechen auch über die gesetzliche Lage und über die medikamentöse Methode des Eingriffs. Wir haben lange versucht, Gynäkologinnen der Charité dafür zu gewinnen – leider ohne Erfolg.
Wie hat die Charité auf die Workshops reagiert?
Als wir 2015 angefangen haben, liefen die Workshops eher unbemerkt ab. Erst ab 2017, als die Medien zunehmend über uns berichtet haben, wurde die Charité auf uns aufmerksam. Einige Professoren wollten verhindern, dass wir weiterhin die Räume der Charité nutzen, weil wir angeblich die Ermordung von Menschen üben. Zum Glück ist das inzwischen vom Tisch. Wir können weitermachen.
Und Ihre Forderung nach einer Änderung des Curriculums?
Ab dem Sommersemester wird es tatsächlich eine Änderung geben. Ein neues Seminar soll die rechtlichen und ethischen Aspekte behandeln, aber weiterhin nicht die medizinischen, weil sich der zuständige Gynäkologie-Professor dagegen sträubt. Uns ist der medizinische Aspekt aber sehr wichtig. 15 Prozent der Abbrüche in Deutschland werden noch immer als Kürettage (Ausschabung, Anm. d. Red.) durchgeführt. Das ist eine veraltete Methode, die weniger schonend als das Absaugen ist. Über solche Dinge muss gesprochen werden.
Sie sprechen immer von Schwangerschaftsabbrüchen. Vermeiden Sie bewusst das Wort Abtreibung?
Abtreibung ist ein bisschen negativ konnotiert. Wir glauben, dass Abbruch die Sache ganz gut trifft – eine Schwangerschaft kann man fortführen oder abbrechen, das sind für uns zwei gleichberechtigte Optionen. Aber natürlich ist auch der Begriff Abtreibung nicht verkehrt.
Kritiker werfen Ihnen vor, ungeborenes Leben zu töten. Was sagen Sie dazu?
Egal, wie wir darüber sprechen, es wird immer Kritiker geben. Wenn es keine legale Möglichkeit gibt, wird es mehr heimliche Abbrüche geben. Die Vorstellung, dass weniger Frauen abtreiben, wenn es verboten ist, wurde schon mehrfach wissenschaftlich widerlegt. Das Einzige, was sich dadurch erhöht, ist die Gesundheitsgefahr für die Frauen und deren psychische Belastung. Man müsste viel mehr in Sexualaufklärung investieren und Verhütung besser zugänglich machen.
Auf der Webseite Ihrer Gruppe gibt es die Rubrik „Diagnose Sexismus". Was hat es damit auf sich?
Wir sammeln in Zusammenarbeit mit einer anderen Studierendengruppe anonym Beispiele für Sexismus im Klinikalltag. Der ist dort leider sehr ausgeprägt. Viele anzügliche Kommentare werden nebenbei als Witz eingestreut. Wenn der Chef so etwas macht, sagt kaum jemand was, weil es in den Kliniken noch immer starke Hierarchien gibt. Das sind keine Einzelfälle, sondern das ist ein strukturelles Problem – bei dem übrigens auch Männer zu Opfern werden können.
Der Bundestag hat kürzlich eine Reform des umstrittenen Paragrafen 219a beschlossen. Ärzte dürfen künftig darüber informieren, dass sie Abtreibungen vornehmen. Was halten Sie davon?
Mit der Gesetzänderung sind wir nicht zufrieden. Der Paragraf 219a müsste komplett aus dem Strafgesetzbuch gestrichen werden. Die eigentlichen Informationen über den Eingriff sind weiterhin kriminalisiert – das widerspricht internationalen Menschenrechtsstandards. Deutschland ist in Europa mit diesem Standpunkt weiterhin isoliert. Das Ganze ist doch paradox: Die Abtreibungsgegner verbreiten die absurdesten Theorien, und das ist erlaubt. Aber eine Ärztin, die sachlich über einen medizinischen Eingriff informiert, macht sich strafbar.
Dann halten Sie auch nichts von der Idee des Gesundheitsministers, die seelischen Folgen von Abtreibungen untersuchen zu lassen?
Es ist eine Schande, dass fünf Millionen Euro für eine Studie ausgegeben werden, wo es doch längst wissenschaftliche Untersuchungen dazu gibt. 95 Prozent der Frauen, die ihre Schwangerschaft abgebrochen haben, bereuen den Eingriff auch drei Jahre später nicht. Man sollte das Geld lieber in eine Studie zur Versorgungslage investieren oder für Forschung zu neuen Verhütungsmitteln für Männer – da gibt es ja bisher nur wenige Möglichkeiten. Gesundheitsminister Spahn zementiert einfach ein altes Klischee. Dabei müsste er nur selbst einmal die Studien zur Hand nehmen und sie lesen.
Wie geht es an den Unis nun weiter? Wird es weitere Proteste geben?
Bei uns ist die Resonanz riesig. Bei jedem Papaya-Workshop sind mindestens zwei Kamerateams vor Ort. Wir bieten inzwischen zwei Seminare mit jeweils 25 Plätzen pro Semester an. Trotzdem gibt es eine lange Warteliste. Auch in anderen Städten bilden sich Gruppen, die dafür eintreten, dem Schwangerschaftsabbruch mehr Raum im Curriculum zu geben. Wir werden uns zunehmend deutschlandweit vernetzen. Da ist viel in Bewegung. Im Großen und Ganzen erhalten wir viel positives Feedback.