Es täte den Sozialdemokraten gut, etwas mehr Realitätssinn zu entwickeln
Vor vielen Jahren, im Jahr 2002, war die FDP – erneut – Zielobjekt für allerlei Hohn und Spott gewesen. Beflügelt von guten Umfrageergebnissen und mit einer nahenden Bundestagswahl vor sich, kamen die Liberalen zu dem Schluss, dass es an der Zeit wäre, das gewachsene Selbstbewusstsein durch eine besondere, symbolische Entscheidung zu untermauern: Man stellte einen eigenen Kanzlerkandidaten auf.
Der damalige Parteivorsitzende Guido Westerwelle wurde dementsprechend mit diesem Anspruch in den Wahlkampf geschickt. Der Spott war den Liberalen sicher, von Selbstüberschätzung wie Selbstüberhöhung war die Rede, und ganz sicher war dies nicht der genialste taktische Schachzug, den sich die FDP je geleistet hatte. Sie ist, weise geworden, danach nie wieder auf diese Idee gekommen.
Zu jenen, die sich besonders laut über diesen Einfall mokierten, gehörten damals auch die Sozialdemokraten. Kanzlerkandidaturen, so die Aussage, seien kein Witz, sondern eine ernsthafte Sache, die nur Parteien zustünden, die auch ernsthafte Aussichten darauf hätten, die notwendigen Mehrheiten zu erlangen – oder, wenn nicht zu erlangen, so doch zu organisieren.
Man fühlt sich aktuell an diese Geschichte erinnert. Heute sind es nicht die Liberalen, die den Hohn auf sich ziehen, heute sind es die Sozialdemokraten selbst. Das hängt nicht nur mit der Tatsache zusammen, dass der übliche Hang zur Selbstzerfleischung nach Überwindung der jüngsten Koalitionskrise wieder voll durchbricht und sowohl Alte-Männer-Clubs um ehemalige Getreue von Ex-Kanzler Schröder sowie „Reformer", die das Linke in sich neu entdecken, um die sozialdemokratische Deutungshoheit ringen – und damit auch um Personal.
Nachdem Finanzminister Olaf Scholz, vielleicht einfach nur arglos formuliert und dann überinterpretiert, seinen Hut scheinbar in den Ring geworfen hatte und anschließend Altkanzler Gerhard Schröder in der ihm eigenen Süffisanz durch die Abkanzelung der Bundesvorsitzenden Nahles Öl ins Feuer goss, blieb dieser, fast notgedrungen, nichts anderes übrig als ebenfalls öffentlich zu postulieren, sie könne Kanzlerin.
Die Begeisterung der Medien wie auch der Satiriker über diese Abfolge missglückt propagierter Karrierewünsche war offensichtlich, und dass die Steilvorlage dann auch von manchem politischen Gegner genüsslich ausgenutzt wurde, wenig verwunderlich.
Die dahinter liegende Frage bleibt jedoch: Wer darf Kanzler – also ernsthaft? Dass einer um die 16 bis 19 Prozent dümpelnden SPD exakt diese Ernsthaftigkeit nicht mehr unterstellt wird – teilweise nicht einmal mehr von ihren eigenen Anhängern – ist die Krux in der Geschichte. Der mit einer Kanzlerkandidatur verbundene Machtanspruch muss respektabel sein, auch vom politischen Gegner ernst genommen werden.
Die aktuelle Diskussion in der SPD ist eine nostalgisch-trotzige, die Windungen einer Partei, die sich an jene Zeiten erinnert, als ihr politischer Gestaltungsanspruch sich in der Fähigkeit niederschlug, tatsächlich Mehrheiten organisieren und ihnen vorstehen zu können.
Diese Zeiten aber sind aktuell sicher vorbei. Die formulierten Ansprüche und die Vehemenz, mit der diese vorgetragen werden, bekommen etwas Tragikomisches, was neben Schadenfreude auch Mitleid auslösen kann. Gefangen in der vergangenen Glorie der eigenen Geschichte fällt es sicher schwer, von liebgewordenen Gewissheiten von einst Abschied zu nehmen.
Es täte der SPD gut, etwas mehr Realitätssinn zu entwickeln. Die Realität ist: Es wird, wenn kein Wunder geschieht, auch bei den kommenden Bundestagswahlen wenig Chancen auf einen sozialdemokratischen Kanzler geben. Wenn es zu einem Wechsel kommt, dann eher unter der Führung eines grünen Kandidaten – auch wenn beide Parteien derzeit wieder gleichauf sind. Anstatt sich mit solchen Personaldiskussionen ein klein wenig lächerlich zu machen, stünde es der Sozialdemokratie gut zu Gesicht zu erforschen, in welcher Koalition sie sinnvollerweise die Position des Juniorpartners suchen kann. Mehr ist absehbar nicht drin.