In England tummeln sich die größten Fußballtalente Europas. Immer mehr von ihnen zieht es nach Deutschland, weil sie hier Spielpraxis bekommen. Die Bundesliga wird dadurch zur Ausbildungsliga.
Der englische Boulevard ist nicht zimperlich, vor allem wenn es um den deutschen Fußball geht. Da wird gern mal zu Kriegsmetaphern gegriffen, so auch im vergangenen Oktober. Es drohe eine „mega-raid" – so warnte die Boulevard-Zeitung „The Sun" vor dem angeblichen „Mega-Raubzug" der deutschen Vereine auf junge Talente von der Insel. Und mit einem humorvollen Wortspiel forderte das Blatt die deutschen Manager auf: „Hands off!" – also Hände weg!
Top-ausgebildete junge Spieler, die auf den Durchbruch in der englischen Premier League, in der der Konkurrenzkampf aufgrund der hohen individuellen Qualität enorm ist, nicht warten wollen, sind in der Tat bei deutschen Clubs heiß begehrt. In der Winterpause wechselten zum Beispiel Rabbi Matondo (18) für neun Millionen Euro von Manchester City zum FC Schalke 04, und RB Leipzig angelte sich auf Leihbasis den U17-Weltmeister Emile Smith-Rowe vom FC Arsenal. Der FC Bayern München bemühte sich heftig um Callum Hudson-Odoi (18), doch der Rekordmeister blitzte mit seiner 46-Millionen-Euro-Offerte beim FC Chelsea zumindest im Winter ab.
Spätestens seit Jadon Sancho bei Borussia Dortmund raketenhaft durchgestartet ist, schauen die Bundesligisten beim britischen Nachwuchs ganz genau hin. Die Talente wiederum betrachten die Bundesliga als ideales Sprungbrett und Karrierebeschleuniger. „Ich weiß nicht, ob die jungen englischen Spieler besser sind als die deutschen. Ich weiß nur, dass sie sehr hart für ihre Chance arbeiten. Wir wollen unseren Familien helfen und zu Spielern werden, auf die sie stolz sein können", sagt Sancho. Seinen Kollegen in England, die ebenfalls jung, talentiert und ungeduldig sind, empfahl der Nationalspieler die „gute Liga" in Deutschland, in der „viel für die Jugend getan" werde. Der pfeilschnelle und trickreiche Offensivspieler wechselte vor anderthalb Jahren für 7,5 Millionen Euro aus der U18 von Manchester City nach Dortmund, wo er seinen Marktwert durch berauschende Auftritte mittlerweile auf schwindelerregende Höhen getrieben hat. Erst bei einer dreistelligen Millionensumme dürfte der BVB über einen Transfer überhaupt nachdenken. Die Verantwortlichen von Manchester City um Teammanager Pep Guardiola mussten sich seitdem reichlich Spott anhören, so einen Rohdiamanten quasi zum Schnäppchenpreis ziehen gelassen zu haben.
„Wir wollen unseren Familien helfen"
Zumindest diesen Fehler machten sie bei Matondo nicht: Dem Vernehmen nach hat Man City eine Rückkauf-Klausel in den Vertrag mit Schalke einbauen lassen. Wirklich begeistert war Guardiola über den Wechsel des walisischen Nationalspielers, der bei einem internen Sprinttest sogar schneller als Leroy Sané war, dennoch nicht. „Wir glauben eigentlich an unsere jungen Spieler. Wenn sie die nötige Geduld mitbringen, können sie bleiben", sagte Guardiola angesprochen auf Matondo. „Aber wenn sie ungeduldig sind, dann müssen sie halt gehen."
Viele Talente von der Insel sind nicht geduldig, sie flüchten ins Ausland. Das hat zwei Gründe: Zum einen ist die Chance auf Einsatzzeiten bei Premier-League-Teams so klein wie in keiner anderen Liga. Die Clubs haben dank der immensen Einnahmen aus der TV- und Auslandsvermarktung massig Geld, für das sie sich die besten Spieler der Welt leisten. Diese Spieler werden natürlich eingesetzt, der eigene Nachwuchs hat es schwer. Auf der anderen Seite sind die Nachwuchskicker in England so gut ausgebildet wie noch nie. Der englische Fußball hat nach den jahrelangen Misserfolgen der Nationalmannschaft sein Ausbildungskonzept komplett überarbeitet. Das Konzept nennt sich „Elite Player Performance Plan" – und es wird geklotzt und nicht gekleckert. Manchester City hat sich die im Dezember 2014 eröffnete City Football Academy angeblich rund 250 Millionen Euro kosten lassen. Die Anlage verfügt über 16 Rasenplätze. Die auch hierzulande aufgekommene Idee, dass die Profis und der Nachwuchs unter einem Dach trainieren, ist bei Man City längst Standard.
Alle englischen Clubs steckten massig Geld in den Unterbau, zogen moderne Nachwuchszentren hoch, in denen mehr Wert auf die individuelle Schulung als auf mannschaftstaktisches Verhalten gelegt wird. Zudem investieren sie sehr viel in die Trainerausbildung und holen schon in jungen Jahren die größten Talente Europas zu sich. Dadurch werden auch die heimischen Nachwuchsspieler besser. Die Folge: Englands Nachwuchs dominiert im internationalen Vergleich, 2017 gewann England die WM bei der U20 und U17, die U19 wurde Europameister. „Die Spieler, die die U20-WM gewonnen haben, könnten in drei Jahren bereit sein", sagte Englands U20-Auswahlcoach Paul Simpson. Doch so lange wollen diese Spieler auf den Durchbruch in der Premier League nicht warten. Und das ist das Glück der Bundesliga. „Durch die dortige Finanzkraft wird öfter eher noch mal ein Etablierter geholt, die Durchlässigkeit ist da nicht so gegeben", sagte BVB-Sportdirektor Michael Zorc. Auch Ralf Rangnick, Trainer und Sportdirektor bei RB Leipzig und berühmt für sein exzellentes Auge für Hochveranlagte, meint: „Von Deutschland aus betrachtet, haben Manchester City und der FC Chelsea die besten Akademien, aber keiner dieser jungen Spieler hat eine wirkliche Chance, in der ersten Mannschaft zu spielen."
Im Vergleich mit den meisten deutschen Talenten sind die englischen Nachwuchskicker jedoch deutlich voraus, sodass sie in der Bundesliga auf mehr Einsatzzeit kommen und dem Verein sogar kurzfristig helfen können. Eine Win-win-Situation, die nicht nur bei Sancho, sondern auch bei Reiss Nelson (19, von Arsenal London bis zum 30. Juni 2019 an die TSG Hoffenheim ausgeliehen) und Javairo Dilrosun (20, Niederländer, im Sommer 2018 für eine Ausbildungsentschädigung von 230.000 Euro von Man City zu Hertha BSC gewechselt) zum Tragen kam. Außerdem suchen Reece Oxford (20, von West Ham United bis zum 30. Juni 2019 an den FC Augsburg ausgeliehen) und Keanan Bennetts (20, im Sommer 2018 für 2,25 Millionen Euro von Tottenham Hotspur zu Borussia Mönchengladbach gewechselt) in der Bundesliga ihr Glück.
Den Trend verstärkt hat auf jeden Fall BVB-Überflieger Sancho. „Jadon, den ich sehr gut aus der Jugendakademie von City kenne, ist ein Vorbild für mich", sagte Schalkes Neuzugang Matondo. Auch Leipzigs Winter-Transfer Smith-Rowe verfolgte Sanchos Spiele in Dortmund ganz genau, schließlich haben beide vor zwei Jahren bei der U17-WM den Titel für England gewonnen.
Ein Ende des Hypes um Talente aus England ist nicht in Sicht. Laut Medienberichten scoutet selbst der deutsche Branchenprimus Bayern München intensiv im englischen Nachwuchs, neben Hudson-Odoi sollen die Münchner auch an Xavier Amaechi interessiert sein. Als der 18 Jahre alte Flügelstürmer mit der U23 des FC Arsenal ein Ligaspiel gegen Swansea bestritt, sollen laut „Football London" Scouts von 14 Bundesligisten auf der Tribüne gesessen haben. Schalke 04 soll sich derweil beim FC Liverpool wegen des nigerianischen Angreifers Taiwo Awoniyi (21) erkundigt haben.
Die Liste ließe sich beliebig lang fortsetzen. Doch nicht allen gefällt die Entwicklung. „Die Bundesliga", warnte Nationalspieler Julian Brandt, „rutscht immer mehr in diese Ausbildungsliga ab." Denn so dankbar die großen Talente von der Insel für Spielzeit in Deutschland auch sind: Eigentlich ist es für sie nur ein Sprungbrett zurück nach England. Denn dort sind sie groß geworden, dort ist das große Geld zu verdienen. Der Hoffenheimer Reiss Nelson gibt das auch unumwunden zu. Es sei sein Ziel, sich „in der Bundesliga zu beweisen und dann hoffentlich bei Arsenal in die Premier League zurückzukehren", sagt er. Brandt sorgt sich deswegen auch um das Image der Bundesliga. „Fertige Spieler", so der Profi von Bayer Leverkusen, würden lieber sofort nach England gehen, „weil sie wahrscheinlich einfach das Gefühl haben, dass das Niveau dort noch mal ein bisschen höher ist."
Die deutschen Nachwuchsspieler dürften die Flut an englischen Talenten auch eher skeptisch sehen. Schließlich blockieren sie Plätze im Profikader, die sie gern eingenommen hätten. Doch „in der deutschen Talentförderung sind wir ein wenig vom guten Weg abgekommen", stellt nicht nur BVB-Geschäftsführer Hans-Joachim Watzke fest. Vor allem im Bereich der 16- bis 20-Jährigen gebe es ein Qualitätsproblem.
An Qualität mangelt es Sancho definitiv nicht. Der Shootingstar ist einer der Spieler in Deutschland, die am meisten bewundert werden – trotz seiner erst 18 Jahre. In der Bundesliga hat der Tempodribbler gelernt, mannschaftsdienlicher zu spielen und im richtigen Moment die richtige Entscheidung zu treffen. Das ging jedoch nur, weil er hier Zeit bekam, Fehler zu machen. Früher habe er immer zuerst seine Fähigkeiten demonstrieren wollen, sagt Sancho: „Inzwischen sehe ich meine Mitspieler sehr viel genauer und binde sie in mein Spiel besser ein." Insgesamt sei er „reifer geworden". Reif für die Insel? Angeblich lockt Manchester United Sancho mit einem 115-Millionen-Euro-Angebot.