Von humorvoll bis bitterböse, von der Kurzgeschichte bis zur Ballade: Mehr als 20 Lesebühnen bieten noch nicht so bekannten Autoren in Berlin eine Plattform, um neue Texte in ungezwungenem Rahmen vorzutragen.
Samstagabend, Berlin-Neukölln, Flughafenstraße: Im schummrigen Licht und unter einer Discokugel sitzen etwa 30 Menschen dicht gedrängt auf Holzstühlen und abgenutzten Polstermöbeln in einem Veranstaltungsraum der Eckkneipe Trude Ruth & Goldammer. Zigarettengeruch dringt durch die Türritzen. Passend zur verblichenen Illustration an der Wand: Es ist jener Mann mit Schnauzbart, der in den 70ern noch die Zigarettenpackungen der Marke Roth Händle zierte. Doch die heutige Lesung wartet mit einem aktuellen Thema auf. „Love me gender" – so lautet das Motto des Abends, den die Lesebühnenshow „Parallelgesellschaft" veranstaltet.
Mini-Talkshow und Gewinnspiel
Anders als bei anderen Berliner Lesebühnen treten bei der „Parallelgesellschaft" nur Künstlerinnen und Künstler auf, die sich selbst als Person of Colour (PoC) bezeichnen. PoC – das ist eine selbst gewählte Bezeichnung von Männern und Frauen, die sich als nicht-weiß definieren. Eine Stammautorin der „Parallelgesellschaft" ist Jacinta Nandi, die britische und indische Wurzeln hat. An diesem Abend liest die 38-Jährige satirische Kurzgeschichten, bei denen es mal um die Vorliebe für die Farbe Rosa, dann knallhart ums Thema Abtreibung geht. Mit polemischem Unterton – ähnlich auch bei Temye Tesfus. Er nimmt in seinem Text heterosexuelle Paare auf die Schippe, die allzu sehr mit ihrem Nachwuchs prahlen. Fast schon poetisch dagegen muten die Balladen von Jokka an, der seine Lieder auf der Gitarre begleitet. Und wiederum rhythmisch die Stücke von Tanasgol Sabbaghs, die sich weder als Prosa noch als Poesie leicht einordnen lassen.
Zwischendurch gibt es eine Mini-Talkshow und ein Gewinnspiel. Zwei Freiwillige aus dem Publikum beantworten Fragen zu den Themen Homosexualität und Feminismus. Später interviewt Jacinta Nandi im lockeren Plauderton den feministischen Netzaktivisten und Youtuber Tarik Tesfu.
„Berlin hat die vitalste Lesebühnenkultur"
Das aufwendige Format der alle zwei Monate auftretenden Gruppe ist nur ein Beispiel für die Vielfalt der Lesebühnen in der Hauptstadt. „Im Vergleich zu anderen deutschen Großstädten hat Berlin die vitalste Lesebühnenkultur", bestätigt auch der Lesebühnen-Autor und Schauspieler Moses Wolff. Der bayrische Künstler tritt sowohl regelmäßig in seiner Heimatstadt München als auch in der Hauptstadt auf. „In Berlin findet quasi jeden Abend eine Lesebühnen-Show statt", sagt der Münchener. „Im Comic-Vergleich hieße das: Berlin wäre das Pendant zu Gotham City und München das Gegenstück zu Entenhausen." Auch andere große deutsche Städte wie Hamburg oder Köln hätten in der Regel nur eine Lesebühne.
Kein Poetry Slam
Im Gegensatz zum sogenannten Poetry Slam gibt es keinen Wettbewerb, der Schwerpunkt liegt auf dem Vorlesen eigener Texte. Zu hören sind kurze, meist witzige Geschichten oder Gedichte. Einige klingen, als seien sie erst eine halbe Stunde zuvor entstanden, andere sind dagegen sehr ausgefeilt. Was sie vereint? Ihre Frische, das Authentische, das mitunter noch Rohe. „Bei den Lesebühnen gibt es eine Selbstverpflichtung, dass immer neue Texte vorgetragen werden. Manche handhaben das sehr streng, andere etwas lockerer", sagt Frank Sorge, Mitglied der Brauseboys. Die reine Männerformation existiert seit 16 Jahren und tritt wöchentlich in Berlin-Wedding auf.
„Der perfekte Lesebühnentext fängt an mit einem deutschen Mann"
Trotz aller Vielfalt sind die Autorinnen in der Regel in der Unterzahl. Neben Jacinta Nandi treten vor allem Lea Streisand, Sarah Bosetti, Kirsten Fuchs und Eva Mirasol regelmäßig auf Berliner Lesebühnen auf. Vielleicht habe auch das mit klassischen Rollenbildern und Aufgabenverteilungen zu tun, mutmaßt Jacinta. Die als Mutter unter anderem eines eineinhalbjährigen Kinds abends oft einfach damit ausgelastet ist, das Kleinkind ins Bett zu bringen. „Männer haben einfach mehr Zeit, selbst als Vater. Das ist unfair", bemängelt sie. Die Männerdominanz klingt auch in einer ihrer Geschichten an, in der sie spöttisch über das Genre Lesebühnentext schreibt: „Der perfekte Lesebühnentext fängt mit einem deutschen Mann beim Bürgeramt oder Jobcenter an oder vielleicht im Supermarkt. Der deutsche Mann ist durchschnittlich attraktiv ebenso wie der Ich-Erzähler." Dann skizziert sie den typischen, oft lässigen Ton der Vortragstexte: „Der deutsche Mann steht in einer Schlange. Er steht sehr lange in dieser Schlange. Die Zeit, die er in dieser Schlange verbringt, ist wirklich sehr lang. Andere Leute an dem Ort, wo er sich befindet, also beim Bürgeramt oder Jobcenter oder vielleicht im Supermarkt, verhalten sich in einer bestimmten Art und Weise, die eigentlich unerträglich, unmöglich oder einfach dämlich ist."
Logisch, dass das auf eine Konfrontation egal welcher Art zusteuern muss.
Erste Lesebühnen seit den späten 80er-Jahren
Als Gründungsjahr der Lesebühnen gilt das Jahr der Wende: 1989. Vorläufer war die „Höhnende Wochenschau" in Berlin-Kreuzberg, die der Autor Wiglaf Droste bereits ein Jahr zuvor ins Leben gerufen hatte. Während der Studentenstreiks an der Freien Universität 1989 wurde ein „Mittwochsfazit" veranstaltet und ein Jahr später traten Akteure wie der bekannte Kabarettist und Autor Horst Evers und andere auf die Bühne und gründeten Dr. Seltsams Frühschoppen. „Das waren die Vorbilder für die nächste Generation der Lesebühnen, die sich Mitte der 1990er gründeten, etwa wie die Reformbühne, LSD oder die Surfpoeten", sagt Frank Sorge. Mittlerweile seien die Lesebühnen ein bisschen in die Jahre gekommen. „Unser Publikum ist mit uns gealtert", schmunzelt der 41-Jährige. „Früher haben einfache Bierbänke gereicht, heute braucht man ein Lokal mit bequemeren Plätzen, wo man auch etwas essen und trinken kann." Und so heißt es auch im Vorwort der Jubiläums-Anthologie „Zugegeben, der erste Hype der Lesebühnen ist vorbei, der zweite vielleicht auch schon."
Dennoch, das Genre ist ziemlich lebendig – gerade schwappt die nächste Welle durch Berlin. Und neben Mix-Formaten wie dem der „Parallelgesellschaft" gibt es weitere neue Konzepte. Bei Veranstaltern wie „Noch nicht mehr dazwischen" oder Kabeljau & Dorsch liegt der Fokus beispielsweise nicht auf authentischen und manchmal recht unausgegorenen Texten noch nicht etablierter Autoren. Stattdessen setzen die sogenannten „Lesereihen" auf Ausgefeilteres, auf mehr Qualität. Und auf bekanntere Namen wie etwa Helene Hegemann und die für den Preis der Leipziger Buchmesse nominierte Schriftstellerin Anke Stelling. Das Ambiente aber bleibt gleich – schließlich hat es sich seit 30 Jahren bewährt. Also wird auch bei den leicht veränderten Formaten bei Bier und Kerzenschein in Kiezkneipen gelesen. Ungezwungen und dicht dran an den Künstlern.