Jeder dritte Deutsche scheint zu glauben, dass er seiner Gesundheit durch das Schlucken von Nahrungsergänzungsmitteln etwas Gutes tun kann. Die Wissenschaft hält hingegen eine ausgewogene Ernährung für mehr als ausreichend.
Der hiesige Markt der Nahrungsergänzungsmittel (NEM) boomt. Aktuellen Zahlen zufolge werden jährlich bis zu 172 Millionen verkauft, die Branche macht damit einen Umsatz von 1,2 Milliarden Euro. Die meisten Pillen und Kapseln, nämlich 36 Prozent, erwerben die Verbraucher im Drogeriemarkt, hinsichtlich des Umsatzes haben allerdings sogar die Apotheken die Nase vorn. Über den Versandhandel werden sieben Prozent der NEM geordert. Absoluter Verkaufsrenner sind Magnesiumpräparate, gefolgt – mit vergleichsweise großem Abstand – von Vitamin A/D-Präparaten, Calcium- sowie Eisen-Präparaten.
Jeder dritte Deutsche schluckt regelmäßig die Pülverchen im festen Glauben, seiner Gesundheit durch die zusätzliche und scheinbar unbedenkliche Zufuhr von Vitaminen und Mineralien etwas Gutes zu tun. Nahrungsergänzungsmittel sind für viele zu einer Art Lifestyle-Produkt geworden, das dem Körper in konzentrierter Form all das an lebenswichtigen Nährstoffen liefern kann, was er zum perfekten Funktionieren benötigt. Die Wissenschaft sieht das allerdings ganz anders. Sie weist darauf hin, dass keines der NEM die Folgen einer Fehlernährung ausgleichen und schon gar nicht die Aufnahme ausreichender Mengen an gesundem Obst und Gemüse ersetzen kann, weil diese nicht nur Vitamine enthalten, sondern auch noch Hunderte weiterer Stoffe, die für den Organismus lebenswichtig sind und mit den Vitaminen zusammenwirken, was isolierte, synthetische Stoffe in NEM nicht können.
Dennoch nähren die Hersteller der NEM erfolgreich und nimmermüde das Märchen von der Vitamin-Unterversorgung der modernen Verbraucher. Sie behaupten, dass die Lebensmittel aufgrund der durch die intensive Landwirtschaft ausgelaugten Böden nicht mehr so viele Nährstoffe wie früher enthalten würden. Ein Irrglaube, dem vor allem die Verbraucherschützer auf dem Onlineportal verbraucherzentrale.de vehement widersprechen: „Deutschland ist kein Vitaminmangelland."
„Deutschland ist kein Vitamin-Mangelland"
Wer sich eingehend über Sinn, Nutzen und Risiken von Nahrungsergänzungsmitteln informieren möchte, dem sei diese Webseite wärmstens empfohlen. Selbst wer nicht regelmäßig Obst und Gemüse konsumiert, nimmt mit der normalen Nahrung ausreichende Mengen an Vitaminen, Mineralien und Spurenelementen zu sich, sofern er sich nicht dauerhaft einseitig-nährstoffarm mit Tiefkühlpizza oder Schokocreme-Toast vollstopft. Wer wirklich an einem Nährstoffmangel leidet, bei dem also eine ernsthafte Erkrankung vorliegt, dem können keine NEM, sondern einzig und allein Arzneimittel helfen.
Das Wochenjournal „Die Zeit" hat jüngst in einem kritischen Beitrag zum Thema Nahrungsergänzungsmittel auf Hunderte von Studien hingewiesen, die in den letzten Jahren von internationalen Forschern unternommen wurden, um möglicherweise einen positiven Einfluss von NEM auf die Gesundheit nachweisen zu können. Das ernüchternde Resümee lautete: „Die Mehrzahl der Studien zeigt, dass die Einnahme von Nahrungsergänzungsmitteln nicht gleichzusetzen ist mit der Zufuhr der entsprechenden Substanzen auf natürlichem Weg, also etwa in Obst und Gemüse. Einen Zusatznutzen fand man in größeren Studien gar nicht."
Nahrungsergänzungsmittel sind per gesetzlicher Definition Nährstoffe in konzentrierter Form, die nur dazu bestimmt sind, in Form von Kapseln oder Tabletten die allgemeine Ernährung zu ergänzen. Rechtlich gesehen handelt es sich also nicht um Arzneimittel, sondern um Lebensmittel. Das hat zur Folge, dass NEM im Unterschied zu Medikamenten weder eine behördliche Zulassung durchlaufen müssen, noch ihr Nutzen oder ihre potenziellen Risiken von zuständigen Stellen überprüft werden. Der Hersteller muss sein Präparat vor der Markteinführung lediglich beim Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit anmelden und ist ganz allein für die gesundheitliche Unbedenklichkeit der Inhaltsstoffe verantwortlich.
Es gibt allerdings europaweit verbindlich eine Reihe von gesetzlichen Vorgaben. Diese betreffen vor allem die zulässigen Inhaltsstoffe und die Kennzeichnungspflichten auf den Verpackungen (verbindlicher Warnhinweis vor Überdosierungen und empfohlene Tagesportion). Verboten sind jegliche Heilversprechen, also Aussagen, die auf die Beseitigung oder Linderung von Krankheiten abzielen. Auch Behauptungen, dass eine ausgewogene Ernährung zur lebensnotwendigen Nährstoffversorgung nicht ausreichend sein könnte, sind untersagt. Stattdessen muss ausdrücklich darauf hingewiesen werden, dass Nahrungsergänzungsmittel kein Ersatz für eine ausgewogene Ernährung sein können. Im rechtlichen Grauland angesiedelt sind Werbeversprechen wie „eine Extraportion Gesundheit". Solche oder ähnliche Slogans werden im Einzelfall von der Europäischen Lebensmittelsicherheitsbehörde (EFSA) geprüft.
Die EU hat in ihrer „Nahrungsergänzungsmittel-Richtlinie" eine Positivliste erstellt, in der alle erlaubten Vitamin- und Mineralstoffverbindungen aufgelistet sind. Fraglos ein wichtiger Beitrag zur Verbrauchersicherheit, allerdings hat man vermieden, verbindliche Angaben zu Höchst- oder Mindestmengen für die einzelnen Inhaltsstoffe festzulegen. Das kann bei Überdosierungen Gefahren bergen – mit unerwünschten und teils gesundheitsschädlichen Folgen. Ein weiterer Haken ist, dass die NEM neben Vitaminen und Mineralien auch noch eine Vielzahl weiterer Ingredienzen enthalten dürfen, die in der EU-Richtlinie als „sonstige Stoffe" subsumiert werden, und für die es bislang keine Positivliste gibt. Darunter fallen beispielsweise „Botanicals" getaufte Pflanzen- oder Kräuterextrakte, Aminosäuren, essenzielle Fettsäuren, natürliche Öle oder sekundäre Pflanzenstoffe wie Polyphenole. Manche dieser „sonstigen Stoffe" werden von den hiesigen Verbraucherschützern „nicht grundsätzlich als unbedenklich" eingestuft.
Für Veganer sind NEM sinnvoll
Obwohl die NEM als Lebensmittel eingestuft sind, handelt es sich bei ihnen doch um Nährstoffe in konzentrierter Form. Dadurch kann man sie leicht überdosieren. Es gibt Beispiele, bei denen dies zu Gesundheitsschäden führen kann. Wenn beispielsweise Raucher zusätzliche Gaben von Beta-Carotin (Provitamin A) zu sich nehmen, das in der Werbung als Wundermittel für schöne Bräune und UV-Schutz von innen angepriesen wird, können Lungenkrebserkrankungen begünstigt werden. Wenn werdende Mütter in den ersten Wochen der Schwangerschaft zu viel Vitamin A zu sich nehmen, kann das eine negative Auswirkung auf die Entwicklung des Kindes haben und schlimmtenfalls zu Fehlbildungen führen. Eine Überdosierung mit Magnesium, dessen Mangel zu Muskelkrämpfen oder Ermüdungszuständen führen kann, was sich leicht durch viel Gemüse oder Vollkornprodukte beheben lässt, kann zu Durchfällen, Magen-Darm-Beschwerden, Blutdruckabfall oder Muskelschwäche führen. Vorsicht vor Überdosierungen ist besonders auch bei den fettlöslichen Vitaminen A, D, E und K geboten, weil der Körper sie nicht so schnell wie die wasserlöslichen Vitamine wieder ausscheiden kann.
Vitamin D nimmt eine Sonderstellung ein, denn laut neuen Statistiken ist ein Drittel der deutschen Bevölkerung damit mangelhaft versorgt. Allerdings kann dieser Mangel durch eine gezielte Ernährung und/oder Sonnenbaden behoben werden. Die Einnahme von Vitamin-D-Kapseln wird vor allem Risikogruppen wie Senioren oder Säuglingen empfohlen, da diese wegen eines geringen Vitamin-D-Gehalts in der Muttermilch von einem Mangel betroffen sein können. Allerdings rät das Bundesinstitut für Risikobewertung vor einer längeren Einnahme hoher Dosen von Vitamin D dringend ab, weil dadurch das Risiko für Nierensteine oder Gefäßverkalkungen deutlich ansteigen könne. Auch mit Überdosierungen von Omega-3-Fettsäuren ist nicht zu spaßen, weil dadurch die Fließeigenschaften des Blutes verändert und das Blutungsrisiko erhöht werden kann. Problematisch können auch Wechselwirkungen zwischen Nahrungsergänzungsmitteln und Medikamenten sein.
Es gibt jedoch auch einige Gesellschaftsgruppen, für die bestimmte NEM sinnvoll sind. An erster Stelle zu nennen: die Veganer. Sie brauchen die Zufuhr von B12 (wichtig für Zellteilung, Blutbildung und Nervenfunktion), das hauptsächlich in tierischen Lebensmitteln und nur in ganz geringen Mengen beispielsweise in Sauerkraut oder fermentierten Sojaprodukten enthalten ist. Auch Schwangere und Stillende benötigen eine höhere Menge B12. Sie können nach ärztlicher Rücksprache auch eine Zusatzmenge von Jodid zu sich nehmen. Frauen, die bei der Menstruation viel Eisen verlieren, können dies mit entsprechenden NEM-Pillen ausgleichen. Auch die Einnahme von Folsäure während der frühen Schwangerschaft ist durchaus sinnvoll.