Es war nicht das erste Mal, das Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán gegen die EU schießt. Es dürfte auch nicht das letzte Mal gewesen sein. Der 55-Jährige hat nichts gegen Krawall. Und er hat schon neue Freunde – in Moskau, in China oder der Türkei.
In der Budapester Josefstadt gibt es eine Kreuzung, auf der man von allen Seiten von denselben älteren Herren angegrinst wird: von EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker– und von dem Philantropen George Soros. Dieser ist seit Jahren der erklärte Lieblingsfeind Orbáns. Mit hetzerischen Kampagnen hat Orban dafür gesorgt, dass Soros’s Open Society Foundations nach Berlin emigriert sind und seine Universität den Betrieb in Ungarn teilweise eingestellt hat. Soros und Juncker auf einem Plakat: In Ungarn ein klares Signal dafür, dass man die EU in denselben Topf schmeißt wie den vermeintlichen Staatsfeind.
Der Aufschrei in Europa war groß. Nun aber wirklich hinaus mit dem Fidesz, der ungarischen Regierungspartei, aus der Europäischen Volkspartei (EVP). Selbst die CSU mit ihrem Kommissions-Spitzenkandidaten Manfred Weber sah sich genötigt, auf Distanz zu Viktor Orbán zu gehen. Ein Teil der Plakate wurde nun immerhin überklebt, damit Weber sie bei seinem Besuch in Budapest vergangene Woche nicht zu sehen bekam.
Weber hatte bei seinen Parteifreunden in anderen Hauptstädten zwar für den Verbleib in der EVP geworben. Aber der Vorwurf, sie machten sich zu „nützlichen Idoten" der Linken war schon schwerer Tobak. Trotz aller Friedensinitiativen in letzter Minute: Orbán ist ein Mann des Kampfes, und sind gerade keine Feinde zur Hand, muss man eben welche erfinden, und sei es nur auf Plakaten.
Längst hält der ungarische Ministerpräsident Ausschau nach neuen Bündnispartnern, wenn es in der EU weiter nach Konfronation ausieht. Besonders steht er auf starke Männer aus dem Osten: Erdogan, Xi Jinping, Putin. Mit Erdogan kümmert er sich männerfreundschaftlich um die Aufarbeitung der Vergangenheit, der osmanischen Besatzung Ungarns von 1541–1686, nebenbei redet man über Rüstungszusammenarbeit und Flüchtlingskontrolle. Chinas Xi Jinping wiederum will Ungarn an die Seidenstraße anschließen und daher den Ausbau der verrotteten Bahnstrecke Belgrad-Budapest zur Güter-Express-Trasse durchführen und finanzieren. Orbán träumt davon, Ungarn zum Drehkreuz Chinas in Europa zu machen. Im Augenblick liegt aber alles auf Eis: Wegen des ausschreibungslosen Bahnprojekts hat die EU ein weiteres Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet.
Putin zu guter Letzt betrachtet Ungarn offenbar längst als wiedergewonnenen Bruderstaat. Es kommt vor, dass er sich mehrmals pro Jahr mit Orbán zu Konsultationen trifft. Das neueste Projekt ist der Umzug der Internationalen Investitionsbank IIB von der Moskwa an die Donau. Der ungarische Staat trägt sämtliche Kosten, während die Niederlassung und alle Mitarbeiter diplomatischen Schutzstatus erhalten. Die IIB ist die wiederbelebte RGW-Bank aus sowjetischen Zeiten und gilt als Operationsbasis des KGB-Nachfolgers FSB, bald also innerhalb des Schengenraumes und auf Nato-Territorium. Da passt es ins Bild, dass sich Ungarn unermüdlich für die Aufhebung der wegen des Ukraine-Konflikts verhängten EU-Sanktionen gegen Russland stark macht.
Die Josefstadt ist kein reicher Bezirk. Wer bei den Plakaten links abbiegt in die Kőris utca gerät mitten hinein in das Sanierungsgebiet Orczy-Viertel: Unverputzte Brandwände, niedrige, ärmlich-verfallene Häuser. Für die groß angekündigte Sanierung des Viertels sollen nun 6,3 Millionen Euro aus EU-Mitteln bereitgestellt werden. Dies reicht für eine Handvoll Gebäude, aber nicht für ganze Straßenzüge. Die landesweite Anti-EU-Plakatkampagne kostet ein Mehrfaches. Das im Bau befindliche neue Nationalstadion wird inzwischen auf 630 Millionen geschätzt, das Hundertfache.
Orbáns Ziel: Ungarn als Regionalmacht
Wer aber auf der Vorfahrtsstraße bleibt, der Illés utca, kommt direkt zum Ludoviceum, der alten Offiziersakademie. Hier wurden die Einsätze der ungarischen Armee in den beiden Weltkriegen mit erdacht und vorbereitet. Beide Kriege endeten an der Seite Deutschlands in der totalen Katastrophe. Orbán hat sich von diesem Omen nicht beirren lassen und hier mit vielen Millionen Euro aus EU-Töpfen das Ludovika-Campus aus der Taufe gehoben, die neue Nationale Verwaltungsuniversität NKE, die bürokratische und militärische Kaderschmiede des von ihm ausgerufenen „Systems der Nationalen Zusammenarbeit".
Orbán will gestalten, aber längst nicht mehr nur als Juniorpartner wie bei der „Öffnung nach Osten", sondern als Anführer. Im Visier stehen nun Slowenien, Kroatien und Nord-Mazedonien. Hier hofft er auf Freunde im Geiste. Orbáns Medien- und Propaganda-Experte Árpád Habony kauft gezielt Medienhäuser auf, um sodann über Hetze und Angst-Kampagnen den gesellschaftlichen Diskurs zu manipulieren und Rechtspopulisten an die Macht zu verhelfen. In Nord-Mazedonien ging das voriges Jahr schief. Orbán-Protegé Nikola Gruevski musste trotz aller Intervention die Macht abgeben und sollte vor Gericht gestellt werden. Ungarische Diplomaten schmuggelten den Gestürzten nach Budapest, wo er prompt als Flüchtling Asyl erhielt.
Orbán geht aber noch einen Schritt weiter. Im Mai 2018 kündigte er ein massives Aufrüstungsprogramm an. Der Verteidigungshaushalt solle sich mehr als verdoppeln. Ungarn bräuchte eine moderne, schlagkräftige Armee, die es mit jeder anderen Streitkraft aufnehmen könne. Und vor allem: Die Verteidigung Ungarns sei nicht länger Sache der Nato oder der EU. Die gezielt übertriebenen Formulierungen ließen aufhorchen. Beobachter verwiesen auf die Ukraine als krisengeschütteltes Nicht-Nato-Land an Ungarns Grenzen.
Die Beziehungen zwischen Kiew und Budapest befinden sich auf einem Tiefpunkt. Die Fidesz-Regierung lehnte die Maidan-Revolution in der Ukraine ab, identifizierte sich mit dem Autokraten Viktor Janukowytsch und schaffte es nicht immer, sich in der Krim-Frage und dem Krieg im Donbass von Moskau zu distanzieren. Die ungarische Minderheit im bis 1919 zu Ungarn gehörenden Transkarpatien lässt Orbán entgegen ukrainischer Gesetzgebung mit ungarischen Pässen ausstatten. Das häufig ungeschickte, in Teilen offen nationalistische Agieren Kiews verschlimmert die Lage weiter.
Orbáns nationale Mission ähnelt der von Erdogan und Putin. Und genau wie sie braucht er dafür Zeit. Seine erneute Machtübernahme 2010 nannte er eine Revolution und verkündete alsbald, er rechne mit 30 Jahren für sein Projekt. Ein Machtverlust in demokratischen Wahlen ist also für ihn keine Option. Daher die schleichende Abschaffung des Rechtsstaates, die Änderung des Wahlsystems, die immer weitergehende Behinderung der Opposition, die Unterdrückung der Zivilgesellschaft, die angestrebte Kontrolle der Justiz und aller Medien.
Aber wie weit kann er gehen im Konflikt mit der EU? Es gibt da ein kleines Problem: 60 Prozent der Ungarn, wohl auch eine Mehrheit seiner eigenen Anhänger, sind EU-Befürworter und möchten eigentlich nur in Ruhe leben. Daher die immer neuen Anti-EU-Kampagnen und die permanente Angst- und Stresserzeugung über das Thema Migration.
Orbáns Ziel, seine Mission ist ein nationalistisches Ungarn als Regionalmacht. Er will nicht unbedingt die EU verlassen, er will sie in die Situation der EVP bringen: Im Konflikt kann er nur gewinnen. Alle Vorteile genießen und gleichzeitig tun und lassen, was man will. Sein Rausschmiss brächte immer noch mehr Nachteile als Vorteile. Und wenn es doch schiefgeht und die EU Ungarn hinausdrängt oder zerfällt, dann macht er eben mit anderen weiter. Nur im Streit ist er stark.