Die Zeitung vom Montag ist die vom Montag voriger Woche – zumindest, was das Papier betrifft: Papierrecycling kann sehr rasche Abfolgen haben. Das Berliner Unternehmen Bartscherer macht bereits in dritter Generation Geld mit der Aufbereitung von altem Papier.
Es ist kurz nach 6 Uhr am Morgen: Das graue Stahlgitter an der Einfahrt wird knarzend aufgezogen – jetzt ist der Weg frei für den ersten Sattelzug des Tages. Vollbeladen mit Altpapier fährt der Brummi aufs Berliner Werksgelände und wird erst mal gewogen. Dann geht es weiter nach hinten auf den Hof von „Bartscherer Recycling", dem größten Unternehmen seiner Art in Ostdeutschland. 27 Tonnen Kartonage und Papier werden nun entladen. Ein übergroßer Radlader ist sofort zur Stelle und nimmt mit einer riesigen Schaufel die erste Fuhre des Rohstoffs, füttert dann die Sortieranlage. Aus seinem Büro in einem zweistöckigen Flachbau direkt an der Reinickendorfer Montanstraße beobachtet Joachim Lange das Ganze zufrieden. 650 bis 750 Tonnen Altpapier werden hier jeden Tag angeliefert, gepresst und an die Papiermühlen weitergereicht. Lange ist immer einer der Ersten im Betrieb, genießt auch an diesem Morgen schon seinen Kaffee. Der 79-Jährige ist der Senior und Geschäftsführer des Entsorgungsfachbetriebs. Die Spezialisierung auf Altpapier kam Anfang der 70er-Jahre, als er den Betrieb von seinem Vater übernahm. Dieser hatte 1920 im Berliner Arbeiterbezirk Wedding als Lumpensammler mit einem Handkarren angefangen. Das damalige Motto: „Lumpen, Knochen, Eisen und Papier, ausgeschlagene Zähne sammeln wir".
Beim Gewerbeamt hießen solche Leute nach dem Zusammenbruch des Kaiserreiches „Rohproduktenhändler". Davon gab es vor gut 100 Jahren jede Menge, vor allem wegen der hohen Arbeitslosigkeit. Urgroßvater Lange schlug sich durchs Leben: Drittes Reich, Zusammenbruch, Blockade, Wiederaufbau – dann die fetten Jahre des Konsums in der 60ern.
„Wir haben damals unser Altpapier vor allem von der Industrie, dem Gewerbe und dem Handel bezogen. Wir hatten aber zu Westberliner Zeiten das Problem, dass wir das alles über die Transitstrecke nach Westdeutschland bringen mussten", erinnert sich Joachim Lange an seine Anfangszeit im väterlichen Betrieb. Anfang der 70er begann dann die Kunststoffverpackung ihren Siegeszug. Mülltrennung? Gab’s noch nicht. Altpapierverwertung wurde sozusagen geduldet, war als Produkt übrig geblieben. Dazu kamen noch die langen Anfahrtswege zur nächsten Papiermühle.
Die Papiertonne: eine Erfindung von Chef Lange
Die Geschäfte von Bartscherer liefen deshalb damals „minderprächtig", schmunzelt Lange. „Doch dann kam 1973 die Ölkrise. „Der Ölpreis knallte innerhalb eines Jahres um das Sechsfache durch die Decke", erinnert sich Joachim Lange. Die Menschen begriffen langsam, dass bestimmte Ressourcen auf dieser Welt endlich sind. „Das war dann unsere Chance, denn plötzlich schossen auch die Preise fürs Altpapier nach oben." Blieb eine Frage: „Die Preise für Altpapier blieben weiterhin hoch – aber woher sollten wir das ganze Zeug holen?" Langes Idee: Warum nicht die privaten Haushalte ansprechen und neben die Mülltonnen – damals noch aus Stahl, wegen der heißen Asche – eine Zusatztonne für Altpapier stellen? Das schlug bei diversen Hausverwaltungen ein: Wenig später standen die ersten blauen Bartscherer-Altpapiertonnen auf den Berliner Hinterhöfen. Lange hatte eine völlig neue Rohstoffquelle aufgetan. „Die Menschen fanden das damals toll. Wir waren sozusagen die Miterfinder der Mülltrennung in den privaten Haushalten", sagt der 79-Jährige und grinst dabei. Doch das mit der Mülltrennung im Haushalt war zu Beginn im alten Westberlin nicht so einfach. Der Berliner Senat hatte mit der DDR einen Müllvertrag geschlossen, wonach der Hausmüll aus Westberlin komplett gegen – so zumindest Langes Einschätzung – „horrende" Devisen in den Osten ging. Das hieß: die Berliner Müllabfuhr West musste bestimmte, vorgegebene Müllkontingente auf den Mülldeponien Ost abliefern, damit der Vertrag eingehalten wurde. Da durfte es nicht sein, dass Bartscherer der BSR das Altpapier wegschnappte und die ihr Kontingent nicht erfüllen konnte. Nach langem Hin und Her einigte man sich. Fortan gab es die Mülltrennung auch in der Mauerstadt. Was in der DDR und Bundesrepublik längst an der Tagesordnung war, nannte man hier großspurig „Berliner Müll-Modell".
Das gesteigerte Umweltbewusstsein ist heute nicht nur das Geschäftsmodell von Bartscherer. Unzählige Unternehmen haben sich des Altpapiers angenommen. „Alles, was heute Verpackungskartonage ist, ist zu 100 Prozent aus Altpapier und kann bis zu fünfmal wiederverwertet werden", erklärt Joachim Lange den Kreislauf. Dabei werden die Zellulosefasern immer kürzer – irgendwann reicht deren Länge einfach nicht mehr, sie werden dann bei der Produktion einfach ausgeschwemmt. Deswegen benötigt eine Tonne Recyclingpapier auch rund 1,2 Tonnen Altpapier. Langes Faustformel: „Ein Fünftel des angelieferten Altmaterials wird in der Produktion ausgeschwemmt." Aber das sei kein Problem: Nach dem Versickern werde daraus innerhalb von wenigen Wochen Humus.
Große Unterschiede gibt es bei der Qualität: Werde hochwertiges, reines, weißes Papier angeliefert, zum Beispiel Reste aus Druckbetrieben, mache sich das natürlich auch bei den Preisen bemerkbar. Lange: „Eine Tonne durchschnittliches Altpapier bringt 90 Euro, die rein weiße Variante dagegen bis zu 450 Euro."
Die Zirkulation von Papier, Altpapier und Recycling ist dicht getaktet. Ein Beispiel: Sonntagnacht wird eine Zeitung gedruckt und liegt Montagmorgen zum Verkauf aus. Landet diese am Montagabend bereits im Altpapier und wird mit der Papiertonne abgeholt, ist sie Mittwoch schon bei Lange und seinem Unternehmen. Dann geht es in die Papiermühle. Wenn alles glatt läuft, kann aus dem Altpapier vom Montag schon eine Woche später wieder eine Zeitung oder ein Pappkarton werden.
Daneben steht der Bereich Großverpackungen: Dort sind die Umschlagzahlen in den letzten Jahren explodiert. Kein Wunder – alles, was im Internet bestellt wird, muss per Pappkarton versendet werden. „Das sehe ich als Altpapierhändler natürlich gern, das ist schließlich mein Geschäft", sagt Joachim Lange. Dennoch, zum Recycling kommen wesentlich unökolgischere Elemente: „Man darf ja nicht vergessen, die Kartons müssen hergestellt werden – und diese Kartons werden viele Tausende Kilometer transportiert, bis sie dann wieder bei uns landen."
Auch das anschließende Recycling von Altpapier ist sehr energieintensiv. Der Transport des Rohstoffs verbraucht Sprit, die Aufbereitung Wasser und die Produktion viel Energie. Der Pferdefuß an der vermeintlich umweltfreundlichen Altpapierverpackung. Bei diesem Thema wird selbst Joachim Lange nachdenklich: „Natürlich sind Pappe und Papier als Verpackung auf jeden Fall wesentlich besser als Plastik. Aber alles in allem wäre weniger Verpackung ein deutliches Plus für die Umwelt."