Kopfschütteln bei den Experten: Das britische Parlament möchte den Brexit-Termin gern verschieben, weil es einen Deal will. Brüssel signalisiert dabei Entgegenkommen, will aber nicht nachverhandeln. Und die Europawahl rückt näher.
Der Tag des Austritts rückt näher und das britische Parlament beschäftigt sich weiter mit sich selbst. Premierministerin Theresa May fährt Abstimmungsniederlage über Abstimmungsniederlage ein, hält jedoch eisern an ihrem Kurs fest: Es muss einen Deal geben. Immerhin will Westminster den Austrittstermin nun verschieben, sprich, es will einen Deal – nur nicht zu EU-Bedingungen. Genau daran könnte es letztlich scheitern und trotz Verlängerung einen No-Deal-Brexit geben.
Was für Auswirkungen hätte dieser für die Region? Eine Lösung oder ernstzunehmende Vorschläge, wie man die Kuh vom Brexit-Eis bekommt, können selbst Experten nicht mehr finden. Zu verfahren, zu chaotisch, zu unsicher ist die Situation in Großbritannien. Prof. Yossi Mekelberg und Dr. Neven Andjelic, beide Experten für internationale Beziehungen der Regent’s University London, gehen hart ins Gericht, vor allem mit der britischen Regierung. Nach einem Verhandlungsmarathon von rund zwei Jahren sei es der breiten Öffentlichkeit nicht mehr vermittelbar, dass die britische Regierung kein akzeptables Verhandlungsergebnis durch das Parlament bekomme, um einen harten Brexit zu verhindern, so Andjelic. Wenn es in Großbritannien überhaupt noch eine Mehrheit für irgendetwas gebe, dann wenigstens eine Mehrheit für einen geregelten Brexit, so Mekelberg.
„Das ständige Hin und Her, Nachverhandlungen in Brüssel, aberwitzige Forderungen und Versprechungen, ständige Verzögerungen und von vornherein zum Scheitern verurteilte Abstimmungen zeigen die Inkompetenz der britischen Politik im Hinblick auf den Brexit", so Andjelic weiter. „Die Abgeordneten sollten sich darauf besinnen, für was sie gewählt wurden. Wenn sie schon wenig für das Wohl der Bürger in ihrem Wahlkreis tun, dann sollten sie aber bitte das Wohl des Landes im Auge behalten", betonte Mekelberg. „Die Parlamentarier denken in erster Linie an sich selbst. Premierministerin Theresa May will im Amt bleiben, der ehemalige Außenminister und Brexeteer Boris Johnson will selbst an die Macht und Oppositionsführer Jeremy Corbyn von der Arbeiterpartei wünscht sich das Großbritannien der 70er-Jahre zurück."
Inkompetenz der britischen Politik
Ob Regierung, Regierungspartei oder Opposition in Großbritannien: Im Moment weiß dort niemand so genau, wo die Reise hingeht. Am 29. März ist (Stand zum Redaktionsschluss) auf jeden Fall Schluss mit den Briten in der EU. Zwar will das britische Parlament neue Verhandlungen über die Zollunion und den Backstop, viel zu verhandeln gibt es aber aus Sicht der EU dabei nicht.
Laut Urteil des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) könnten die Briten sogar noch am 29. März den Super-GAU, den No-Deal, stoppen und ihr Austrittsgesuch zurückziehen, erklärte Prof. Dr. Thomas Giegerich, Direktor des Europa-Instituts an der Universität des Saarlandes. Doch davon sei wohl nicht auszugehen. Auch einem zweiten Referendum über den Verbleib Großbritanniens in der EU werden nur geringe bis keine Chancen eingeräumt. Die Zeichen stehen also bestenfalls auf Verschiebung des Austrittsdatums. Doch die nächsten Hürden wären dann schon vorprogrammiert: Dürfen die Briten dann am 26. Mai noch für das Europaparlament wählen? Wie sollte alles in der verbliebenen kurzen Zeit überhaupt noch realistisch organisiert werden? Die EU-Kommission habe bislang noch keine Anfrage der britischen Regierung zur Europawahl erhalten, sagte eine Kommissionssprecherin gegenüber FORUM. Laut eines EU-Papiers aber sollten die Briten bis zum 1. Juli austreten – ohne Wahlen.
Im Augenblick aber machen die Briten den Eindruck, als wüssten sie selbst nicht, was sie wollen. Jeder ernstgemeinte Vorschlag, wie die künftigen Beziehungen zwischen dem Vereinigten Königreich und der EU nach einem Brexit aussehen sollen, wird von den Briten gnadenlos abgeschmettert. Modell Norwegen? Ein britisches „no", weil man sich ja den EU-Regeln unterwerfen und sogar in den Haushalt einzahlen müsste. Modell Schweiz? No, weil darin die Personenfreizügigkeit gilt. Modell Ukraine? No, denn dann unterwirft man sich der Rechtsprechung des EuGH. Modell Türkei? Höchst umstritten, schließlich wäre man dann in der vor allem von den britischen Hardlinern gehassten Zollunion. Modell Kanada, mit Freihandelsabkommen Ceta? Eventuell, da es nur um rein wirtschaftliche Beziehungen ginge. Wenn die Politik vielleicht mit dieser sprunghaften Haltung der Briten noch klarkommen mag – aus der Wirtschaft kommen deutlichere Signale. Zwar reichlich frustriert und genervt, aber eindeutig: „Die Unternehmen wollen endlich eine Entscheidung, denn Unsicherheit ist Gift für die Konjunktur", so Oliver Groll, Geschäftsführer der Industrie- und Handelskammer des Saarlandes. Inzwischen bereiten sich zunehmend mehr Betriebe auf einen No-Deal vor. „Die großen Unternehmen im Saarland, die mit Großbritannien intensiven Handel betreiben, haben sich längst mit dem Brexit auseinandergesetzt und Alternativen erarbeitet. Luft nach oben gibt es noch für den Mittelstand", so Groll. Zwar dränge die Zeit. Aber in Zusammenarbeit mit dem Hauptzollamt gebe es verstärkt Seminare und Workshops, zum Beispiel wie man künftig mit Zollformalitäten umgehe. „Ein Funken Hoffnung herrscht allerdings noch, dass sich die Briten und die EU in letzter Sekunde in irgendeiner Form einigen, um den harten Brexit zu vermeiden."
„Verlierer auf allen Seiten"
Deutschland exportierte 2017 laut Statistischem Bundesamt Waren im Wert von 84 Milliarden Euro nach Großbritannien, ist viertgrößter Handelspartner, doch schon 2018 sank der Export um zwei Prozent. Die Konsequenzen des Brexits spüren die Briten jetzt schon. Unternehmen verlagern ihre Standorte von Großbritannien in andere EU-Staaten, Investitionen werden zurückgehalten, Briten nehmen eine andere Staatsbürgerschaft in der EU an. Die Fluggesellschaft Flybmi geht pleite, weil Großbritannien nicht mehr am EU-Emissionshandel teilnimmt und sich die Kerosinpreise verteuern. Der Kreditversicherer Atradius rechnet mit 15.800 Insolvenzen wegen dem Brexit, einem Plus von vier Prozent. Mit dem harten Brexit verliert Großbritannien nicht nur den freien Zugang zu den Märkten der verbleibenden 27 EU-Staaten. Auch die Freihandelsabkommen mit weiteren 40 Ländern, unter ihnen Kanada, Japan, Singapur, verlieren für die Briten ihre Gültigkeit.
„Es wird auf allen Seiten Verlierer geben, aber Großbritannien wird am stärksten betroffen sein", prognostiziert Neven Andjelic. „Will man dem Brexit überhaupt noch etwas Positives abgewinnen, dann vielleicht die Tatsache, dass der Brexit als mahnendes Beispiel in die EU-Geschichte eingehen könnte", so Mekelberg. Andere Länder mit Austrittsgedanken könnte das britische Chaos davon abhalten. Zudem könnte sich die desaströse Parteienlandschaft im Königreich auf den Trümmern des Brexits neu konsolidieren. „Tories und Labour haben es verbockt. Die einzige proeuropäische Partei sind die Liberaldemokraten, aber sie sind einfach viel zu klein."
Keine guten Aussichten für Europa. Und daher sieht Sebastian Zeitzmann von der Europäischen Akademie Otzenhausen in dem Brexit-Gebaren sogar eine Gefahr für die Demokratie. „Politiker, die nur an ihr eigenes Wohl denken, erzeugen Frust auf allen Ebenen und rufen die Populisten auf den Plan. Und das könnte sich spätestens bei den Europawahlen furchtbar rächen."