Hunderttausende Tote, Millionen Menschen auf der Flucht – seit sieben Jahren tobt der Bürgerkrieg in Syrien, auch für das Kulturerbe eine Katastrophe. Das Syrian Heritage Archive Project will die einzigartige Kulturlandschaft zumindest virtuell bewahren – eine Berliner Ausstellung zeigt, wie.
Palmyra, die antike Oasenstadt mit ihren großartigen Tempelanlagen, Raqqa, einst Zentrum der islamischen Welt mit faszinierenden Palästen, Aleppo, die älteste durchgehend besiedelte Stadt der Welt – Syriens Kulturlandschaft sucht ihresgleichen. Hier, zwischen Mittelmeer, anatolisch-iranischem Hochland und dem Persischen Golf, auf dem Gebiet des heutigen Syriens und der Nachbarstaaten, vollzogen sich entscheidende Etappen der Zivilisationsgeschichte. Vor Jahrtausenden wurden Menschen in diesem von Euphrat und Tigris durchflossenen Land erstmals sesshaft, entwickelten Landwirtschaft und Städtebau. Altorientalische Hochkulturen, Griechen und Römer, das frühe Christentum und der frühe Islam haben hier Spuren hinterlassen. Reisende zog dieser kulturell aufgeladene Landstrich seit jeher in seinen Bann. Und für Kulturwissenschaftler und Archäologen stellte er eine ebenso ergiebige wie faszinierende Fundgrube dar. Bis 2011, als sich die Demonstrationen gegen den syrischen Präsidenten Baschar al-Assad mit fataler Dynamik zum Bürgerkrieg ausweiteten. „Damals sind wir erst einmal in eine Art Schockstarre gefallen", erinnert sich Stefan Weber, Direktor des Islamischen Museums der Staatlichen Museen zu Berlin. Weber selbst und viele seiner Mitarbeiter hatten jahrelang in Syrien gelebt und geforscht. „Jeder dachte an Kollegen, Bekannte und Freunde – die Gedanken kreisten um die menschliche Tragödie, die das Land erschütterte."
Als der Krieg bereits zwei Jahre tobte, zehntausende Menschen ihr Leben verloren hatten, Millionen Syrer auf der Flucht waren und die Unesco Syriens Kulturstätten auf die Rote Liste des gefährdeten Welterbes gesetzt hatte, rief das Auswärtige Amt bei Weber an. Das Ministerium hatte Fördergelder zu vergeben und regte an, diese zum Nutzen der bedrohten syrischen Kulturlandschaft zu investieren. Das war der Startschuss für das Syrian Heritage Archive Project, für das Experten des Islamischen Museums und des Deutschen Archäologischen Instituts seither die Kräfte bündeln. Zwar kann auch dieses Projektteam die Kulturdenkmäler und die archäologischen Stätten nicht vor Zerstörungen und Plünderungen bewahren. „Aber wir können ein visuelles Gedächtnis schaffen", sagt Weber und erklärt, wie aus Hunderttausenden Dokumenten – Fotos, Filmen, Karten, Plänen, 3D-Modellen – in den vergangenen fünf Jahren ein digitales Archiv entstanden ist. Und eines Tages, wenn der Krieg vorbei ist, so Webers Hoffnung, könne die in drei Sprachen abrufbare Datenbank Vorlagen für den Wiederaufbau liefern.
Vorlagen für den Wiederaufbau
Das Material, das von den Mitarbeitern des Syrian Heritage Archive Projects in akribischer Kleinarbeit gesichtet, geografisch zugeordnet und digitalisiert wurde, war zum Teil schon im Besitz der Berliner Institutionen und schlummerte in den Archiven des Archäologischen Instituts und des Islamischen Museums. Auch der Nachlass des 2012 verstorbenen Geologen Eugen Wirth, der sich ein Forscherleben lang mit der Kulturgeografie des Orients befasst hatte, wurde den Berliner Archivaren zur Verfügung gestellt. „Zudem erreicht uns aktuelles Material aus dem Bürgerkriegsland", sagt Karin Pütt, Mitarbeiterin beim Syrian Heritage Archive Project. „Dort sind Aktivisten für uns tätig, mit denen wir durch unsere Aufrufe über Facebook in Kontakt gekommen sind." Mitunter setzen sich die engagierten Leute erheblichen Gefahren aus, um den momentanen Zustand der Kulturstätten mittels Fotos und Videomaterial festzuhalten. „Nicht nur die Bombenangriffe sind ein Problem", sagt Pütt. „Auch durch Raubgrabungen und Plünderungen wird den Kulturstätten beträchtlicher Schaden zugefügt."
Rund 200.000 Fotos von Orten und Objekten, Karten und Pläne haben die Archivare schon in ihre Datenbank eingespeist – fast ebenso viele Dokumente müssen noch aufgenommen werden. In erster Linie soll das Kulturerbe-Archiv Experten dienen. Doch auch die interessierte Öffentlichkeit kann es in Augenschein nehmen. Im Berliner Pergamonmuseum zeigt jetzt eine Schau, wie die Kulturschützer ihre Datenbank füttern. Im zweiten Obergeschoss, zwischen dem schon 1912 für die Staatlichen Museen zu Berlin erworbenen Aleppo-Zimmer, der orientalischen Teppichsammlung und der Fassade eines jordanischen Kalifenpalastes wird Film-, Foto- und Audiomaterial aus verschiedenen Jahrzehnten präsentiert – Syrien, wie es einmal war und wie es heute ist. Säulen im Raum repräsentieren die Orte, die für Forscher von besonderer Bedeutung sind: Damaskus, Aleppo, Palmyra, Raqqa und die sogenannten toten Städte, uralte Ortschaften, die schon seit Jahrhunderten unbewohnt sind. Weitgehend unzerstört ist Syriens Hauptstadt Damaskus geblieben. An der Aleppo-Säule aber manifestieren Vorher-Nachher-Fotos die verheerenden Folgen des Krieges. Teile der Altstadt, die mit ihren prachtvollen Bürgerhäusern, der Zitadelle und dem riesigen Bazar, dem größten überdachten Marktviertel der Welt, zum Unesco-Welterbe gehört, liegen in Schutt und Asche.
Was das für einen Kulturwissenschaftler wie ihn bedeutet, bringt Weber auf den Punkt: „Das ist so, als hätte man Florenz zerstört."
„Gefühle muss ich verdrängen"
Tagtäglich die Dokumente der Zerstörung zu sichten, das ist schon für die deutschen Archivare nicht leicht. Ungleich belastender aber ist es für die Syrer im Team. Einer von ihnen ist Issam Hajjar, Fotograf aus Damaskus. 2012 flüchtete er mit Frau und Kind aus seiner Heimat, zuerst nach Kairo, dann nach Istanbul. Die Berliner luden ihn 2015 ein, am Archiv mitzuarbeiten. Seither pflegt er auch eigene und fremde Fotos von der zerstörten Heimat in die Datenbank ein. „Gefühle muss ich komplett verdrängen, sonst könnte ich den Job nicht machen", sagt Hajjar. Er träumt davon, bald wieder nach Syrien zurückzukehren und dort eines Tages beim Aufbau eines Nationalarchives mitzuwirken.
Dass die Besinnung auf ein großes, gemeinsames Kulturerbe eines Tages helfen könnte, die Bürgerkriegswunden zu heilen und die in verfeindete Lager gespaltene Gesellschaft wieder zu einen, hofft Stefan Weber. Bis es so weit ist, möchte er mit den Ausstellungen seines Hauses und mit dem Heritage-Projekt Geflüchteten ein Stück Identität geben. Das zunehmende Interesse an dem von ihm geleiteten Museum bestärkt ihn. „Wir haben heute etwa doppelt so viele Besucher wie vor zehn Jahren", sagt er und erklärt sich das so: „Durch die Aufnahme von Hunderttausenden Syrern hat sich die Gesellschaft verändert. Syrien ist uns nähergekommen."