Kleine Straße, große Namen: Im „Cordo" in Mitte bringt der neue Küchenchef Yannic Stockhausen die „Große Hamburger Straße" in acht Gängen auf den Tisch. Versteht sich, dass „der Neue" selbst ein Hamburger Jung ist und entsprechende Akzente auf seiner Karte setzt.
Am Herd steht ein Hamburger Jung, in der Küche rappen die Beginner, und das Ganze findet zu allem Überfluss in der Großen Hamburger Straße in Mitte statt. Hört sich ausgedacht an, ist es aber nicht. Tatsächlich ist Yannic Stockhausen, der Neue in der Küche vom „Cordo", gebürtiger Hamburger. Und das Lokal war schon einige Jährchen am selben Ort, bevor Stockhausen im November 2018 die Karte in norddeutsche Schwingungen versetzte. Mit dem Abschied vom Österreichischen kam der Twist zur Elbe, mit dem Streichen der Endsilbe „Bar" der Wechsel von der Weinbar zum Restaurant: Aus „Cordobar" wurde „Cordo".
Auf die Verkürzung des Namens folgte die Verlängerung der Karte auf Menü-Format. Die „Große Hamburger Straße" geht’s jetzt in acht Gängen entlang. „Die Aufteilung in drei und fünf Gänge ergab sich daraus", sagt Yannic Stockhausen. Die kleine, dreigängige „Park Fiction" für 42 Euro lassen wir an diesem Abend beiseite. Wir sind zwischen dem fünfgängigen „Zum Silbersack" für 75 Euro und dem langen Lauf auf der „Großen Hamburger Straße" für 105 Euro unterwegs. Wir bekommen sechs Highlights von Stockhausen und seinen fünf Mannen im Küchenteam serviert. Los geht’s mit einem Apéro, drei Kleinigkeiten zum Start. Die sollen mit starken Aromen „so richtig Bock aufs Essen machen", verspricht Stockhausen. Machen sie auch. Das „Hamburger Aalknäckebrot" steht zusammen mit Pumpernickel, Meerrettich und der Drama-Schatten werfenden Kresse-Frisur wie eine Eins auf dem Teller. Die mit Zander gefüllten Kumquats mit Essigpulver und Zuckerchip machen als Zweithäppchen nicht nur optimistische Farbe. Für die nicht-fischessende Begleiterin gibt es sie mit Oliventapenade gefüllt. Fisch und herber Zitrus – bäm, das passt.
Darauf ein Schlückchen vom „my favourite Riesling-Sekt ever", den uns Restaurantmanager Adam Purnell zum Entree einschenkt. Der 2013er von Peter Jakob Kühn ist ein kleinprizzeliges Kaltgetränk, das seine erfrischende Note aus den etwas höheren Weinbergen Rheinhessens mit kühlerem Klima bezieht. Das sich unter einer Hollandaise-Schicht mit Kartoffel-Reis-Knusper verborgene Rindertatar mit Hoisin-Sauce und schwarzem Quinoa sei eine Reverenz an das „Café de Paris" am Hamburger Rathausmarkt, sagt Stockhausen. Es ist würzig, fleischig, cremig und poppig-knuspernd.
Stockhausen strebt nach der Ausgewogenheit der Aromen seiner Gerichte – alle dürfen mitspielen, aber keiner soll den anderen überschreien. Das gelingt ihm kammerspielartig, aber mit Tschingderassabum im Tatar-Gläschen, und ich nehme mir vor, beim nächsten Hamburg-Besuch das Original zum Vergleich zu essen.
Die Gerichte können auch à la carte zum Wein bestellt werden
In meinem Kopf singt Jan Delay von hochgezogenen Mundwinkeln und „dann ist die Welt wieder schön und dann ist alles was ist und was war, vollkommen egal". Finden wir auch, so ganz im Hier und Jetzt unter der illuminierten „Weltmeister"-Ziehharmonika und der Posaunen-Leuchte. Nach einem kurzen Abstecher in die Toiletten-Welt sind wir zudem in große „Underwater Love" verfallen – im Untergeschoss verbirgt sich ein sanitäres Gesamtkunstwerk.
Zurück am Platz lassen wir unsere Blicke von Überseekisten über den Porzellanhund zu unseren Füßen zu den „Doppel-Möpsen" in ihren Rahmen schweifen. Es geht kunstvoll durchdacht zu in dem 40-Plätze-Lokal, und je näher man der Treppe zur Küche kommt, desto mehr „Hamburgiensien" sind als Anspielung auf die Herkunft der „großen Junges" im Küchenteam versteckt. Am Tresen und an den Hochtischen wurde allerdings das Zwanglose der vormaligen –
und nicht zuletzt durch Miteigentümer Gerhard Retter – österreichisch betonten Weinbar erhalten. Dort wird nicht zwangsläufig das große Menü-Theater gespielt; die Gerichte können dort auch à la carte zum Wein bestellt werden.
Wir machen mit dem in Curry-Emulsion fermentierten Sellerie weiter, auf dem eine wachsweiche, in Essig gebeizte und mit Macadamia-Nuss-Schredder bebröselte Eigelbkugel thront. Rasch noch eine Sellerie-Velouté mit grüner Petersilie angegossen, und schon umschmeicheln sich Säure, Wurzeligkeit, cremiges Ei und Kräutlein gegenseitig.
Yannic Stockhausen weiß genau, was er da tut im „Cordo", das ist offensichtlich. Der 28-Jährige wechselte vom „Aqua" in Wolfsburg ins „Cordo". Zuvor hatte er bei Tarek Rose im „Engel" und im „Haerlin" in Hamburg sowie im „Manoir de Rétival" in der Normandie gekocht. Ach ja, sein Patisserie-Wissen holte er sich bei Christian Hümbs, der mit Jan Hartwig zusammen im Münchener „Atelier" den dritten Stern erkocht hatte. Wohin die Reise mit dieser jahreszeitlich orientierten Küche gehen soll, ist also absehbar.
Erst einmal aber steigt der Fisch in den Tarnanzug: „Lachs in Camouflage" ist angesagt. Dunkelbier, Hollandaise und Dillpulver mischen sich zur Flecktarnsauce auf dem Teller. Der schottische Lachs versteckt sich unterm urdeutschen, angenehm mild angespeckten Sauerkraut. Sauerteigbrösel obenauf verdichten das Thema Brot knusprig-effektiv. Sehr unerwartet, sehr stimmig. „Yannic likes to have it complete", sagt Adam Purnell mit unverkennbar nordenglischem Akzent. „Completeness" oder „Ganzheit". Die Begriffe passen. „Mir ist es wichtig, dass nicht der Fisch oder das Fleisch der Protagonist ist", charakterisiert Stockhausen seinen Küchenstil. Gemüse, Sauce, Fisch oder Fleisch sollten gleichwertige Rollen spielen. „Ich möchte dem perfekten Produkt einen geilen Twist verpassen." Das darf gern auch europäisch und muss keineswegs ausschließlich regionaler Herkunft sein.
Whiskey-Canelés gefüllt mit Blutwurst-Creme
„Digga!", sagt Jan Delay. Ich stimme ihm zu. Die „Posse" ist angetan. Und die „Posse" fotografiert. Jetzt den Gang mit der größten „Instagramability". Was Zwiebeln können, können eben nur Zwiebeln, und Perlzwiebeln gleich mal doppelt so gut: mit ihren „Schälchen" schwer anmutig aussehen. Wir lutschen die mit geräucherter Eigelbcreme gefüllten, von Mimolette-Velouté, Zwiebelcreme und Dillöl umschmeichelten Zwiebelschiffchen eines nach dem anderen vom Löffel. Ein „Rehbeinchen", ein Grüner Veltliner vom Weingut Hirsch, begleitet uns mineralisch-fruchtig und anpassungsfähig auf unserer Reise. Die führt im Glas nach Österreich, auf dem Teller dagegen wieder einmal gen Norden und in die „andere deutsche Kebab-Hauptstadt", wie Stockhausen sagt.
Kein schnöder Döner in Brottasche, sondern ein „süffiges", schmackofatziges Ochsenbacken-Kebab verbirgt sich unter einer Haube aus Pistazienpüree, Kopfsalat-Streifen und Ayran-Creme auf dem Teller. Das ist nicht ganz so fotogen wie die Perlzwiebeln, dafür aber glücklich machend fleischig, buttrig und eben „komplett". Nichts ist zu viel, nichts zu wenig daran. Wer öfter im „Cordo" vorbeischauen will, isst übrigens nur teils dasselbe: Alle ein, zwei Wochen wechseln ein bis zwei Gänge im Menü. Soeben eingetroffen auf der Karte ist beispielsweise ein Rib Eye, das wir aber wegen Dessertpräferenz lieber auslassen.
Nach so viel Kunstfertigkeit im herzhaften Bereich und der Ansage „Christian Hümbs" ist uns klar, dass der „Karottenkuchen" zum Dessert gewiss kein gesundheitsbewegter Trockenkuchen sein wird. Nennen wir den kleinen Ring doch einfach „Carrot Cake", wie ihn uns Adam Purnell ankündigt. Dill-Ganache, „Spicy Orange Sorbet", ein Crumble mit Kokos-Nibs und eine Karotten-„Scherbe" als Dach charakterisieren die dekonstruierte und gewürzig, gemüsig und vollaromatisch wieder zusammengesetzte Variante des klassischen Öko-Kuchens. Ist das ein Gruß vom „Quoten-Österreicher" und Commis de Cuisine Benjamin Prag, den uns Yannic Stockhausen als seinen Fachmann für Patisserie und Backwerk vorgestellt hatte? Wir sind glücklich und zufrieden mit einem bisschen Salz als Kontrapunkt im Hintergrund und einem sehr freshen und schön kühlen „Goldtröpfchen" Kabinett von Julian Haart im Glas dazu. Nein, das ist kein Oma-Wein von der Mosel, selbst wenn weingutbedingt der Herkunftsort Piesport auftaucht. Vielmehr finden wir einen schlanken Riesling-Dessertwein vor. Ein bisschen Holz weht uns an, Süße hängt nur im Oberton in der Nase. Das „Goldtröpfchen" ist eine perfekte, eher spritzige denn süßliche Ergänzung fürs Danach. Er passt auch bestens zum „sweet meat dessert", wie Adam Purnell die Rausschmeißerchen nennt: mit Blutwurst-Creme gefüllte Whiskey-Canelés, die sich auf der karamelligen, französischen Gebäckseite breitmachen. Ihr Gegenpart sind magentafarbene Waldfrucht-Macarons mit derselben Füllung, die die mineralischen Aromen der Wurst herauskitzeln. Wir fühlen uns aufs Angenehmste hinauskomplimentiert und kehren gern auf einen kürzeren oder längeren Abstecher nach Hamburg in die Große Hamburger Straße zurück.