Die deutsche Fußball-Nationalmannschaft steht gleich zu Beginn der EM-Qualifikation vor einer hohen Hürde: Die Niederlande erleben nach zuletzt zwei verpassten Großereignissen überraschend schnell einen fußballerischen Aufschwung. Oranje scheint im Umbruchprozess Bundestrainer Joachim Löw und seinem Team einen Schritt voraus.
Die Hochkonjunktur für „Ohne Holland"-Schmähgesänge deutscher Fußball-Fans bei Welt- und Europameisterschaften kann schon bald wieder vorbei sein. Nach ihrer peinlichen Zuschauerrolle bei den beiden vergangenen Großereignissen (EM 2016 in Frankreich und WM 2018 in Russland) schicken sich die Niederlande mit Schwung an, auf die internationale Bühne zurückzukehren und künftig bei der Vergabe von Titeln womöglich auch wieder ein gewichtiges Wort mitzureden. Für die deutsche Nationalelf ist der Start in die EM-Qualifikation am 24. März in Amsterdam beim Nachbarn denn auch alles andere als ein lockerer Aufgalopp in die Ausscheidung zur Endrunde 2020, die in zwölf Städten in zwölf europäischen Ländern ausgetragen wird.
Bundestrainer Joachim Löw empfand das Wiedersehen mit dem Erzrivalen schon unmittelbar nach der Auslosung keineswegs als Glückslos. „Holland hat wieder gute Spieler und eine starke Mannschaft", warnte der Coach vor der in der Vergangenheit oft aufgetretenen Überheblichkeit deutscher Teams in Duellen mit Oranje.
Und Löws Respekt kommt auch nicht von ungefähr. Denn nicht einmal ein halbes Jahr ist vergangen, seit ausgerechnet die Niederlande dem scheinbar übermächtigen Deutschland in der Nations League durch ihren höchsten Erfolg in Duellen gegen die „Duitsen" mit 3:0 in Amsterdam und einem 2:2-Unentschieden in Gelsenkirchen das Ende seiner Dominanz endgültig vor Augen führten. Die beiden Achtungserfolge waren jedoch alles andere als eine Eintagsfliege. Denn ein 2:0 der „Elftal" gegen den gerade wenige Monate amtierenden Weltmeister Frankreich besiegelte Deutschlands Abstieg in die zweite Division des neuen Nationen-Wettbewerbs und ebnete zudem der Mannschaft von „Bondscoach" Ronald Koeman zugleich den Weg zum Nations-League-Finalturnier.
„Holland hat wieder eine starke Mannschaft"
Doch statt mit durchaus erwartbarer Häme besonders für Deutschland reagierten Koeman, seine Spieler, die Medien und eigentlich die gesamten Niederlande geradezu mit Demut auf den unverhofft frühen Höhenflug. „Jeder schaut der Elftal wieder gern zu", beschreibt Koeman einen der aus seiner Sicht wichtigsten Aspekte des Wandels.
An dieser veränderten Wahrnehmung seines Teams und auch der wiedergewonnenen Selbstachtung von Oranje hat der Europameister von 1988 maßgeblichen Anteil. Radikal leitete Koeman nach den vorherigen Rücktritten von Superstars wie Arjen Robben, Robin van Persie, Rafael van der Vaart und Wesley Sneijder bei seinem Amtsantritt im Frühjahr 2018 den Generationswechsel ein. Nicht weniger als sieben Neulinge gaben im ersten Länderspiel unter seiner Regie ihr Debüt. Viel deutlicher kann eine Zäsur nicht vollzogen werden.
Ebenso viel Mut bewies Koeman in taktischer Hinsicht. Der 56-Jährige setzte sich über die Philosophie der „holländischen Schule" hinweg und ersetzte das festgefahrene System der Tradition mit physischem Fußball der Gegenwart. Statt mit seiner sattsam bekannten 4-3-3-Fomation wechselt Oranje nunmehr je nach Gegner munter und mit zunehmend weniger Problemen die Systeme und beherrscht inzwischen sogar schon Dreierketten, Konter und Kontrolle. Vorbei sind die Zeiten, in denen die Niederländer ihrem geheiligten „Voetbal total" aus der Zeit ihres unvergessenen „König Johan" Cruyff zuliebe notfalls in der Schönheit des offensiven Ballbesitzfußballs starben.
Die schnellen Fortschritte überraschen selbst die Spieler. „Es ist schwer zu sagen, warum wir in so kurzer Zeit so viel besser spielen, Wir sind zwar noch nicht am Ziel, aber ich fühle, dass wir auf einem guten Weg sind", beschreibt der neue Oranje-Kapitän Virgil van Dijk die Situation seines Teams. Der von Jürgen Klopp für die Verteidiger-Weltrekordablöse von 80 Millionen Euro zum FC Liverpool geholte Abwehrspieler zählt zweifellos zu den markantesten Gesichtern des Oranje-Aufschwungs. Das spielstarke Innenverteidiger-Ass stabilisierte nicht nur die Abwehr des letztjährigen Champions-League-Finalisten Liverpool, sondern erwuchs in einer der größten Umbruchprozesse des niederländischen Fußballs zu einer unverzichtbaren Führungsfigur in Koemans Personaltableau.
Schnelle Fortschritte überraschen
Für die jugendliche Komponente im niederländischen Team stehen die „Juwelen" Frenkie de Jong und Matthijs de Ligt vom Rekordmeister Ajax Amsterdam. De Jong verkörpert mit seinem für einen 21-Jährigen überragenden Passspiel und einer wachsenden Zweikampfhärte genau jene Frische und jenes Potenzial, die in der neuen Elftal stecken. Neben dem „Zauberfuß", der im Sommer für 75 Millionen Euro von den „Ajacieden" zum spanischen Nobelclub FC Barcelona wechselt, imponiert de Ligt: Mit 19 Jahren schon fungiert der Abwehrallrounder bei Ajax als Kapitän, was Bände über seine Fähigkeiten spricht. Entsprechend erscheinen Spekulationen, dass der Teenager de Jong am Saisonende nach Barcelona folgen soll, überhaupt nicht abwegig. Auch Torjäger Memphis Depay von Olympique Lyon hat mit erst 25 Jahren sein bestes Fußballer-Alter erst noch vor sich.
Der spürbar frische Wind spiegelt sich auch im Zusammenhalt der Mannschaft wider. Unter Koeman, der als Profi ebenfalls in Barcelona die Bedeutung von Kameradschaft verinnerlicht bekommen hat, ist die Zeit der Egos vorbei. Selten war der Teamspirit in der Elftal besser als in der jetzigen Phase der fußballerischen Selbstfindung. Koeman lässt Großspurigkeit auch keine Chance: Sein „neues Oranje" trainiert auf dem modernisierten Campus am Sitz des Nationalverbandes in Zeist und übernachtet in einem benachbart gelegenen Waldhotel – Luxusunterkünfte sind bis auf Weiteres passé. Für Koeman führt der Weg zum Erfolg, den zunächst einmal schon die Teilnahme an der nächsten EM-Endrunde bedeuten würde, nur über das Kollektiv: „Die Mannschaft ist alles. Deswegen müssen wir klare Absprachen und ein klares System eintrainieren."
Die Besinnung auf das Wesentliche schien nach einem beispiellosen Absturz auch angebracht. Nach dem Einzug ins WM-Endspiel 2010 in Südafrika und immerhin noch der Teilnahme am Halbfinale bei der anschließenden WM-Endrunde 2014 in Brasilien war für die nur vermeintlich „goldene Generation" der Zenit überschritten und der Traum der niederländischen Fans vom ersten großen Titel seit 1988 wieder einmal ausgeträumt. Gleichwohl gerieten die Blamagen in den Qualifikationsrunden für die EM 2016 und das WM-Turnier im vergangenen Jahr für Oranje zu einem regelrechten Trauma.
Fans und Medien sind verzückt von den „Koeman Kids"
Doch nicht nur die Fans sind verzückt von den „Koeman Kids". Auch die niederländischen Medien, traditionell der Elftal gegenüber besonders skeptisch eingestellt, bejubeln die Oranje-Renaissance überschwänglich. „Die Elftal hat sich die Zuneigung ihres Volkes mit Fußball und Spielen zum Küssen zurückerobert", schrieb etwa „De Volkskrant" über den Aufschwung des vergangenen Herbstes und schürte die Hoffnungen auf eine neue Erfolgsära: „Koemans Oranje hat sich den Status einer entstehenden Spitzenmannschaft erspielt."
Die Wiedererstarkung des niederländischen Fußballs findet ihren Niederschlag mittlerweile auch auf Vereinsebene. Erst zu Monatsbeginn sorgte Ajax Amsterdam für eine der größten Sensationen in der Geschichte der Champions League, als de Jong und Co. beim spanischen Seriensieger Real Madrid mit sage und schreibe 4:1 triumphierten und damit die Königlichen nach mehr als drei Jahren vom europäischen Thron stießen.
Koeman bemüht sich ungeachtet der anhaltenden Positivschlagzeilen weiter um Bodenhaftung: „Es wird auch wieder schlechte Spiele und schlechte Ergebnisse für Oranje geben. Das Wichtigste ist aber, dass wir immer wieder neue Schritte nach vorne machen."