Die Grünen auf der Erfolgsspur. Die Partei liegt stabil in den Umfragen bei 20 Prozent – und hört das Wort „Volkspartei" gar nicht gern.
Die junge Dame, Mitte 20, die über ihre AirPods noch nebenbei am Tratschen mit einer Freundin über den gestrigen Abend ist, ist sichtlich genervt. „Anna ist noch in der Maske", antwortet die persönliche Parteibeauftragte. Dann erscheint der neue Star des Abends doch rechtzeitig. Annalena Baerbock, Parteichefin von Bündnis 90/Die Grünen, kommt tatsächlich erst genau zum Beginn der Veranstaltung. Ihr Co-Vorsitzender Robert Habeck empfängt sie kurz vor der Bühne, begleitet sie. Das ist die wohlwollende Betrachtung. Andere im Plenum lästern: Er trottet ihr hinterher.
Habeck war da schon eine Stunde mit Basisarbeit am Veranstaltungsort, einer alten Industriehalle in Berlin-Treptow, beschäftigt. Das heißt bei den Grünen nicht, Kopfnicken und Winken, sondern am Eingang persönlich die Besucher in Empfang nehmen und mit den Freunden des Bündnisses tatsächlich reden. Auf die Bezeichnung „Bündnis" legt Habeck momentan sehr viel wert. Denn die Angst geht um bei den Grünen. Die Angst, aus der Volksbewegung der Ökopaxe könnte eine Volkspartei werden, eine Massenveranstaltung (siehe auch Interview Michael Kellner). Parteichefin Baerbock lässt solche Sensibilität vermissen. Auf der Bühne stimmt sie ihr Parteivolk gleich mal mit einem Party-Opening ein: „Wir haben guten Grund, zu feiern". Grüner Ballermann 4.0. Ihr Co-Vorsitzender Robert Habeck steht hinter ihr und mahnt dann irgendwann doch noch mal, dass die Partei auf diesem Konvent erst mal inhaltlich arbeiten müsse.
Surfen auf der Umfragewelle
Es geht um nichts Geringeres als die politische Neujustierung der Grünen für das kommende Jahrzehnt oder mehr. Ein neues Grundsatzprogramm wird gebraucht, bis 2020 soll es stehen, noch rechtzeitig vor der Bundestagswahl. Seit 2002, als das derzeitige beschlossen wurde, ist doch einiges passiert. Kompakt lässt sich das zukünftige Grundsatzprogramm zusammenfassen mit: Grundrecht auf Wohnen und öko-soziale Markwirtschaft. Annalena Baerbock fasst schlagzeilentauglich zusammen: „Wohnen ist kein Markt, Wohnen ist ein Recht." Wie das erreicht werden soll, da hält man sich erst mal vornehm zurück.
Das Fundament der Grünen-Wählerschafft besteht im Frühsommer 2019 aus nicht unerheblichen Teilen aus Eigenheimbesitzern, die bei solchen Rechtsansprüchen schnell vergrätzt werden können. Co-Parteichef Robert Habeck ist da bei inhaltlichen Positionsbestimmungen schon sehr viel vorsichtiger geworden. Beispielsweise beim Thema „Bedingungsloses Grundeinkommen", eine Forderung übrigens, die auch die Linke vertritt. Doch das Grünen-Kapitel „Bedingungsloses Grundeinkommen" ist an den Rand gerückt. Persönlich zeigte sich Habeck in einem kurzen Statement gegenüber FORUM durchaus offen. Nachfragen scheinen aber derzeit nicht ins Bild zu passen. Kaum fallen die Wörter „Bedingungsloses Grundeinkommen", schreitet sein Referent mit Bodyguard-Attitüde ein: „Herr Habeck hat jetzt keine Zeit mehr."
Es bleibt der Eindruck: Wenn die Themen nicht passen, sind die Umgangsformen auch schon mal rabiat. Urgestein und Mitbegründer der Öko-Bewegung Christian Ströbele und seine Grüne-Wahlkreisnachfolgerin aus Berlin-Kreuzberg, Canan Bayram, können davon ein Lied singen.
„Wir geben zu, dass unsere Werte auch teilweise im Widerspruch stehen", wird Robert Habeck wenig später auf der Bühne über das Dilemma seiner Partei sehr offen feststellen, als bei der Präsentation „Anna" mal eine Atempause braucht und ihn auch mal zu Wort kommen lässt. Die Widersprüche werden aber im zukünftigen Parteiprogramm, dem vierten seit 1989, nicht weiter erwähnt. Zum Beispiel Umweltschutz und Fliegen. Habeck träumt von Elektroflugzeugen. Das wird auch vorerst ein Traum bleiben. Doch die Forderung von einem Verbot innerdeutscher Flüge ist längst vom Grünen-Tisch. Das ganze Thema taugt nicht für einen Wahlkampf, egal ob in diesem Sommer oder in zwei Jahren. Die potenziellen Wähler reisen gern und vor allem viel.
„Werte im Widerspruch"
Elektromobilität gegen Verbrennungsmotor soll das Allheilmittel gegen verpestete Innenstädte sein. Städtische Mobilitätsbündnisse machen massiv Front genau gegen diesen angestrebten Austausch von Verbrennern gegen Elektro. Sie wollen stattdessen weniger Individual-Verkehr in den Innenstädten. Doch Fehlanzeige bei der Partei für Umwelt und Mensch. Die Kritiker werden nicht gehört. Stattdessen: „Mehr Raum für Menschen", „Die Stadt gehört uns" – ein Bündnis allgemeiner Floskeln.
Beim Thema Ernährung wird es dann haarig: „ökologischer Landbau" – schön und gut. Doch kann eine wachsende Weltbevölkerung wirklich ohne genveränderte Lebensmittel ernährt werden? Auch auf diese Frage gibt es keine schlüssige grüne Antwort.
„Wir wollen Mehrheiten schaffen", betont Robert Habeck. Annalena Baerbock schreitet nach vielen parteipolitischen Plattitüden an diesem Bündnis-Abend von der Bühne voran. Habeck, der Mann der schönen Wahrheiten, hinterher.