Viele Ukrainer misstrauen der Regierung und hoffen auf einen TV-Komiker
Es ist kein Witz. Der ukrainische Fernsehkomiker Wladimir Selenski, der die politische Klasse immer wieder verhohnepipelt, ist der Favorit für die zweite Runde der ukrainischen Präsidentschaftswahl am Ostersonntag. Den ersten Durchgang gewann Selenski mit riesigem Vorsprung. Vor allem bei den Jungen und bisherigen Nichtwählern saß der Frust über „die da oben" so tief, dass sie einem Neuling und Außenseiter das mächtigste Amt im Staat anvertrauen wollen.
Niemand weiß, was der 41-Jährige genau will. Seinen Landsleuten ist er bisher nur als Star der TV-Serie „Diener des Volkes" bekannt. Darin spielte er einen pflichtbewussten Geschichtslehrer, der durch Zufall Präsident wurde und der Vetternwirtschaft den Kampf angesagt hat.
Das Wahlergebnis ist eine schwere Schlappe für den Amtsinhaber Petro Poroschenko, der es immerhin in die Stichwahl geschafft hat. Mehr als fünf Jahre nach der Maidan-Revolution haben viele Ukrainer das Gefühl, dass sich ihr Leben nicht nennenswert verbessert hat. Damals gingen Hunderttausende gegen Korruption auf die Straße. Sie hofften auf eine enge Anbindung an die EU und Wohlstand. Diese Illusion ist geplatzt.
Ein Arbeitnehmer in der Ukraine kommt heute auf einen durchschnittlichen Monatslohn von 333 Euro. Die Rente beträgt umgerechnet 88 Euro. Aber allein für Gas, Heizung, Strom und Wasser fallen in einer Zweizimmerwohnung 106 Euro an. Poroschenko geriet hier in die Mühlen der Sachzwänge. Um Kredite vom Internationalen Währungsfonds zu erhalten, musste er die Subventionen für Energie und Elektrizität kräftig zusammenstreichen.
Zur Enttäuschung über die wirtschaftliche Lage kommt der Verdruss über die nach wie vor grassierende Korruption. Schwerreiche Oligarchen teilen das Land unter sich auf und diktieren die Bedingungen auf dem Industrie-, Finanz- oder Mediensektor. Selbst der Präsident und Milliardär Poroschenko, wegen seines Süßwaren-Imperiums auch „Schoko-Zar" genannt, hat seinen eigenen TV-Sender. Damit kann er das Meinungsklima im Land beeinflussen. Zwar hat er einige Fortschritte im Kampf gegen Bestechung und Schwarzmarkt erzielt – dies geht aber nach Einschätzung von Kritikern nicht weit genug. Vor allem hat er das Versprechen nicht eingelöst, sich von seinen Unternehmen zu trennen. Der Vorwurf der Bereicherung im Amt wabert durch den Raum.
Dennoch hat Poroschenko Erfolge vorzuweisen. So hat er die Visafreiheit für Reisen in EU-Ländern durchgesetzt. Auch die Abspaltung der ukrainisch-orthodoxen Kirche von Moskau kam bei vielen seiner Landsleute an. Doch das ändert nichts an der weit verbreiteten Unzufriedenheit über die geringen Löhne. Zwei Millionen Ukrainer arbeiten deshalb als Gastarbeiter im Ausland, die meisten davon in Polen.
Bei allem, was man Poroschenko an mangelndem Reformeifer ankreiden kann: Sein Land führt seit rund fünf Jahren einen Krieg gegen pro-russische Rebellen in der Ostukraine. Die Außenpolitik des russischen Präsidenten Wladimir Putin wird zu einem hohen Kostenfaktor für die Regierung in Kiew. Der Kremlchef, der den Zusammenbruch der Sowjetunion einmal als „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts" bezeichnet hatte, will im Fall der Ukraine ein Exempel statuieren. Die Botschaft: Eine weitere Ausdehnung von EU und Nato Richtung Osten wird Moskau nicht dulden. Deshalb wird die Krise in der Ostukraine zu einem eingefrorenen Konflikt.
Die westliche Diplomatie hat sich hier als machtlos erwiesen. Sämtliche Wirtschaftssanktionen, die die EU und die USA nach der Krim-Annexion im März 2014 gegen Russland verhängt hatten, prallten an Moskau ab. Die Krim sei ein abgeschlossenes Kapitel, lässt Putin verkünden. Die große Verhandlungs-Offensive unter Führung von Bundeskanzlerin Angela Merkel, die durch das Minsker Abkommen eine schrittweise Entspannung der Streithähne erreichen wollte, ist bislang gescheitert.
Einer Stabilisierung der Ukraine sind dadurch Grenzen gesetzt. Dennoch kann das Land wirtschaftlich nur vorankommen, wenn die Macht der Oligarchen künftig viel stärker beschnitten und die Korruption noch entschlossener bekämpft wird. Dass der TV-Komiker Selenski die Kraft hierzu hat, darf bezweifelt werden. Sollte er auch den zweiten Wahlgang gewinnen, ist die Gefahr neuer Enttäuschungen sehr hoch.