Im Verlauf der vergangenen 540 Millionen Jahre gab es fünf Phasen gigantischen Artensterbens. Laut Evolutionsbiologen hat der Mensch eine weitere verheerende Krise verursacht, deren Folgen für den Erhalt der Biodiversität auf unserem Planeten geradezu dramatisch sind.
Mit dem Artensterben verhält es sich ähnlich wie mit dem Klimawandel. Es wird seit Jahren immer wieder darüber geredet, ohne dass etwas geschieht, um die Biodiversität, die biologische Vielfalt auf unserem Planeten, zu bewahren. Allerdings hat das quasi tägliche Verschwinden vieler Spezies aus Tier- und Pflanzenwelt inzwischen so dramatische Ausmaße angenommen, dass nicht einmal Donald Trump das Artensterben geleugnet hat. „Mit den in Abermillionen Jahren eingeschliffenen Gleichgewichten der Natur ist es ein wenig wie bei einem gigantischen, gut gebauten Kartenhaus: Das vorsichtige Herausziehen einiger weniger Karten lässt das fein austarierte Gebäude zwar sicher nicht gleich komplett in sich zusammenfallen, aber ab einer gewissen Zahl solcher Lücken ist der kritische Punkt erreicht, und die Katastrophe tritt ein", sagt der Spinnenforscher Peter Jäger vom Frankfurter Senckenberg-Institut in einem Beitrag für die „FAZ".
Stichwort Katastrophe: Evolutionsbiologen sprechen längst vom sechsten großen Artensterben der Erdgeschichte. Diese sechste globale Aussterbekrise ist allerdings die erste vom Menschen verschuldete. Für alle früheren Artensterben gab es natürliche Ursachen wie extreme Kälte, zahllose Vulkanausbrüche oder einen gigantischen Asteroideneinschlag. Vor 252 Millionen Jahren wurden beim dritten großen Artensterben rund drei Viertel der Tiere und Pflanzen an Land sowie 95 Prozent der im Wasser lebenden wirbellosen Tiere im Rahmen einer mega-ökologischen Katastrophe ausgelöscht. Heute weitaus bekannter ist die fünfte Aussterbekrise vor 65 Millionen Jahren, die das Ende der Dinosaurier auf der Erde bedeutete. Schutzprogramme für prominente Spezies wie Wale oder Berggorillas können nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Gesamtzahl der Arten derzeit weltweit geradezu dramatisch zurückgeht.
Niemand kann sicher sagen, wie viele Arten täglich oder jährlich verschwinden, Schätzungen zufolge könnten es täglich bis zu 100 sein, die Jahres-Vernichtungsrate wird auf zwischen 20.000 und 60.000 Arten taxiert. „Wir verbrauchen bereits viel mehr Ressourcen als zur Verfügung stehen, überfischen und vergiften die Ozeane, verbauen und veröden riesige Landflächen", sagt der Artenforscher Michael Schrödl von der Zoologischen Staatssammlung in München in seinem aktuellen Buch „Unsere Natur stirbt". Das Aussterben von Arten auf unserem Planeten geht längst viel zu schnell, als dass Natur und Evolution da noch Schritt halten könnten. Schrödl: „Wir steuern auf biologische Kipp-Punkte zu, an denen riesige Ökosysteme versagen, die uns alle mit Luft, Wasser und Nahrung versorgen." Dänische Forscher der Universitäten in Aarhaus und Göteborg haben unter Federführung von Matt Davis kürzlich im Fachmagazin „PNAS" prognostiziert, dass die schon vorhandenen Einbrüche in der Lebensvielfalt auf unserem Planeten einschneidende Auswirkungen für Abertausende Generationen haben werden. Selbst wenn auf einen Schlag alle für das Artensterben verantwortlichen Faktoren ausgeschaltet werden könnten, würde es laut den dänischen Wissenschaftlern drei bis fünf Millionen Jahre dauern, bis speziell bei den Säugetieren die Vielfalt wiederhergestellt werden könnte, die es auf der Erde gab, bevor der Mensch in die Natur einzugreifen begann.
Still, leise und weitgehend unbemerkt
Ein ganz zentrales Problem beim derzeitigen Artensterben ist, dass es weitgehend still, leise und unbemerkt vor sich geht. Denn die Mehrzahl der auf unserer Erde vorhandenen Arten ist noch gar nicht entdeckt. Gelehrte Schätzungen gehen davon aus, dass die knapp zwei Millionen bislang namentlich klassifizierten Organismen vielleicht gerade mal zehn, allerhöchstens 20 Prozent aller tatsächlich vorhandenen Arten ausmachen. Man kann daher davon ausgehen, dass manche Spezies, die vielleicht für uns Menschen eminent wichtig sein könnte, beispielsweise im Kampf gegen Krebs oder andere gravierende Krankheiten, schon längst verschwunden ist. Es entzieht sich unserer Kenntnis, welche Art abseits der schon klassifizierten Spezies gerade ausstirbt. Von daher sind auch Schätzungen noch so renommierter Wissenschaftler über Aussterberaten mit Vorsicht zu genießen. Sie können höchstens Hochrechnungen sein.
Die regelmäßig von der Weltnaturschutzunion (IUCN) veröffentlichte Rote Liste der bedrohten Arten, auf der 2018 96.951 Arten gestanden hatten, von denen laut IUCN genau 26.840 vom Aussterben bedroht waren, kann daher nur einen verschwindend kleinen Teil der tatsächlichen Gefährdungs-Realität abbilden. In der Regel wird die öffentliche Aufmerksamkeit vornehmlich auf prominente Tierarten wie Breitmaulnashorn, Elefanten, Eisbären oder Tiger gelenkt – während winzige, unauffällige oder versteckte Lebewesen kaum Beachtung außerhalb von Fachwissenschaftler-Kreisen finden. Der Mensch unterzieht seit jeher Spezies einer Einordnung, beispielsweise als schön oder hässlich, essbar oder ungenießbar. Und bemüht sich entsprechend vornehmlich um den Erhalt derjenigen Arten, die für ihn aus Eigennutz von Interesse zu sein scheinen. Das globale Insektensterben, verursacht durch die industrielle Landwirtschaft mit ihren Giften, Überdüngungen und Monokulturen, rückte erst ins öffentliche Bewusstsein, als plötzlich auch das Verschwinden von für die Bestäubung von Obstbäumen so wichtigen Bienenvölkern nicht mehr zu übersehen war.
Wenn hingegen beispielsweise eine Flügelschnecke oder Wildpflanzen, von denen in Deutschland inzwischen jede dritte Art laut dem Bundesamt für Naturschutz in ihrem Bestand als gefährdet gilt, verschwinden, scheint das niemanden zu jucken. Dabei ist in der Natur alles mit allem verbunden, wobei der Mensch letztlich häufig an der Spitze der Nahrungskette steht und man daher im Einzelfall gar nicht richtig abschätzen kann, welche Spezies für uns wichtig oder gar unersetzlich sind. Dass der Erhalt der biologischen Vielfalt auf unserem Planeten eine ganz essenzielle Rolle spielt, dürfte jedermann inzwischen einleuchten.
Die intensive Landwirtschaft mit monokultureller Bebauung der Ackerflächen und dem Einsatz von Insektiziden oder Pestiziden ist für die Artenvielfalt ebenso schädlich wie der Klimawandel, bei dem den Tieren vor allem die zunehmende Nahrungsknappheit erheblich zusetzt. Aber auch die Zerstörung der tropischen Regenwälder, in denen Schätzungen zufolge 70 Prozent aller bekannten tierischen und pflanzlichen Landlebewesen zu Hause sind, ist ein veritables ökologisches Desaster. Die Gründe für das aktuelle Artensterben sind vielfältig, aber fast immer ist der Mensch der Auslöser. Und am Ende wird auch der Mensch die Konsequenzen tragen.