Der AFC Sunderland spielt in der dritten englischen Liga, hat aber gefühlt die Herzen aller Fußballfans auf der ganzen Welt erobert. Verantwortlich dafür ist eine Netflix-Doku, die eigentlich den Wiederaufstieg zeigen sollte – dann aber den zweiten Abstieg in Folge filmte.
Wer in Sunderland lebt, lebt irgendwie in einer Region für Verlierer. Früher war das anders. Die Stadt war berühmt für ihre Schiffe, der Handel blühte und der Bergbau gab den Leuten Arbeit und den damit verbundenen Wohlstand. Das ist lange vorbei – geblieben ist nur die herzliche Art der rauen Engländer aus dem Nordosten. Dort wohnen 277.000 Menschen, fast 60 Prozent haben für den Brexit gestimmt – das größte Problem ist mit 5,7 Prozent aber die Arbeitslosigkeit. Diese liegt deutlich über dem Durchschnitt. Die Erinnerungen an die besseren Zeiten liegen über den Gebäuden der grauen Stadt. Der AFC Sunderland, der dort ansässige Fußballverein, ist ein Spiegelbild seiner Stadt. Auch er lebt von den Erinnerungen an seine gute Zeit und der einstigen Größe. Doch Sunderland hat davon so gut wie alles eingebüßt.
Und das obwohl sie mit Father Marc göttlichen Fan-Beistand haben. Er ist Pfarrer in Sunderland, einer der Pfarrer, die auch kurzerhand mal die Ostermesse sausen lassen, wenn ihr Verein spielt. „Ich besuche jedes Heimspiel von Sunderland", sagte er. Und nebenbei zündete er mit unzähligen Fans Kerzen in seiner Kirche an, für das einzige, was den Leuten in der Region geblieben ist – den AFC.
Ein Spiegelbild der Region
Im heutigen Streaming-Zeitalter ist es mittlerweile zur Normalität geworden, dass sich Zuschauer Dokumentationen über ihre Spitzenteams anschauen können. So geschehen bei Manchester City und Pep Guardiola oder bei einigen Teams aus der NFL. Worum es dabei eigentlich immer geht? Ums Gewinnen, um Siegertypen. Die Dokumentation über City beleuchtete den Siegertypen Guardiola bei seiner täglichen Arbeit. Als Netflix, ein großer Streamingdienst, bei Sunderland anrief, sollte es genau das auch werden: eine Siegergeschichte. Doch es wurde zur Tragödie. Der Club war gerade aus der Premier League abgestiegen und wollte den direkten Wiederaufstieg aus der Zweiten in die Erste Liga realisieren. Mit dabei ein Kamerateam, das in jeder Sekunde an der Seite der wichtigsten Personen stand. So wurde aus einer Geschichte, die als große Rückkehr in die Premier League geplant war, eine über das Verlieren, betrunkene Spieler, verzweifelte Manager und traurige Fans – und am Ende eine über einen erneuten Abstieg. Da endete die Dokumentation auch. Statt in die berühmteste Fußballliga der Welt zurückzukehren, steigen die „Black Cats" nochmals ab – und jeder kann sich dieses Drama anschauen. Immer und immer wieder.
Doch worin liegt die Ursache dieses fatalen Scheiterns? Hinter den Kulissen des Arbeiter-Clubs gab es schon länger einige Unruhen. Club-Eigentümer zu Premier-League-Zeiten war Ellis Short, ein US-Amerikaner, der aber den Verein damals eigentlich schon nicht mehr haben wollte. Vergangenen Sommer wurde der Club dann an Stewart Donald verkauft – der den Deal mit einem Konsortium aus Fußball-Investoren unter Dach und Fach bringen wollte. Aus Zeitgründen stemmte er den Deal dann aber alleine. Dennoch verkündete er, dass „der AFC nun schuldenfrei ist". In einer veröffentlichten Studie für das Finanzjahr 2017 zählte die Uefa den AFC aber noch mit einem 185 Millionen großen Schuldenberg auf Platz 13 der höchstverschuldeten Vereine in Europa. Wie häuft sich so eine gigantische Summe an? Einen großen Anteil daran haben teils verheerende Transferbilanzen zu Premier-League-Zeiten.
In der Saison 2015/16 investierten die Clubverantwortlichen rund 66 Millionen in neues Personal – demgegenüber standen aber nur Einnahmen von rund zehn Millionen Euro. Ein sattes Minus von mehr als 50 Millionen. Selbst vor jener Abstiegssaison, als der Club in die Zweite englische Liga abstieg, wurden 41,9 Millionen in frisches Personal gesteckt. Nach dem ersten Abstieg fehlte dann natürlich das Geld, da in der Zweiten Liga deutlich niedrigere Fernsehgelder gezahlt werden. Hilfszahlungen von 50 Millionen sollten dieses große Loch decken. Doch bei genauem Blick wird deutlich, wieso genau das nicht geklappt hat. Der 20. der Premier League kassiert noch 90 Millionen pro Jahr – die Championship-Teams nur einen Bruchteil davon. In Relation zu den Spielergehältern, die dort gezahlt werden, kann es nur zu einem Kollaps führen. Laut Daily Mail liegt das durchschnittliche Jahreseinkommen eines englischen Zweitligaspielers bei rund 750.000 Euro. So kam es dann, wie es kommen musste, und genau da endete die Doku – mit dem Abstieg aus der Zweiten in die Dritte Liga.
Schlechte Finanzlage
Aufgrund der Netflix-Begleitung hat der Verein natürlich einen höheren Bekanntheitsgrad erreicht. Exemplarisch dafür ist das Interesse an den Personen, die bei der Verfilmung ihr eigenes Schicksal beleuchteten – und zugleich auch ihr Leid kundtaten. Die Geschichte, die viele bewegt hat, ist die der Köchin Joyce Rome. Durch den Abstieg sorgte sie sich um ihren Job und den ihrer Mitarbeiter. Sie arbeitet seit nunmehr 22 Jahren in dem Verein. Und darf es auch weiterhin. „Ich habe jeden Tag mit gekreuzten Fingern weitergearbeitet", erzählt sie. Der Club sei ihre Familie, „wegen ihr habe ich in den letzten zwei Jahren so viel geweint wie sonst nie in meinem ganzen Leben". Ebenso Kultstatus hat nun auch Father Marc. Er hält Messen für seinen Verein, trägt über seinem Gewand manchmal einen Fan-Schal. „Alle haben die Dokumentation gesehen, sie hat die Menschen zusammengebracht, weil sie sich darin wiedererkennen", erklärt er. Father Marc sollte es wissen, er kennt die Menschen in Sunderland. Er ist schließlich einer von ihnen. „Mein Dorf war geteilt in Newcastle-Fans und Sunderland-Fans. Zu welchem Club man hielt, hing von den Eltern ab. Bis heute wird in allen Familien das Sunderland-Gen an die nächste Generation weitergegeben", sagt er.
Und in der Dritten Liga haben die „Black Cats" nun zum Glück nichts mehr mit dem Abstieg zu tun. Dieses Mal geht es um den Aufstieg. Und wie es scheint, geht es nun tatsächlich wieder aufwärts. Mit Jack Ross gibt es einen neuen Trainer, der das Projekt Wiederaufstieg leitet. Derzeit steht der AFC auf Platz vier der Liga, am Ende könnten sie sogar noch auf dem zweiten landen. Lynden Gooch, Stürmer bei Sunderland, spielt seit der Premier League für den AFC. „In der letzten Saison haben wir vergeblich gegen die Verlierermentalität angekämpft, wir sind am Druck zerbrochen", sagt er. Er habe die Dokumentation gesehen. Sie zeige, wie groß der Club sei, und man spüre, wie viel er den Menschen bedeute. „Aber als Spieler braucht man das nicht. Man spürt das jeden Tag und geht damit um. In dieser Saison weht ein frischer Wind, es herrscht wieder Siegermentalität. Wir stehen unter dem gleichen Druck – aber es geht nicht gegen den Abstieg, sondern um den Aufstieg. Das will man als Spieler", sagt Gooch.
Am Ende könnte für den AFC der Aufstieg stehen
Mit Sicherheit ist es auch das, was die gesamte Region will. Ende März stand zudem das Endspiel im Pokal an, der sogenannten Football League Trophy. Vergleichbar mit einem hiesigen Landespokal pilgerten 40.000 Sunderland Fans ins Wembley-Stadion. 1936 wurde Sunderland letztmals Meister, FA-Cup-Sieger 1972. Da wäre selbst dieser Cup, an dem nur Mannschaften aus den unteren Ligen teilnehmen, Balsam für die geschundene Fan-Seele. Das Spiel geht verloren, dramatisch, im Elfmeterschießen. Die Portsmouth-Fans skandierten lautstark: „We saw you crying, we saw you crying on Netflix" (Wir sahen Euch auf Netflix weinen). Und trotz des verpassten Titels war die Antwort: „Sunderland ’til I die, Sunderland ‘til I die!" (Sunderland bis ich sterbe).