In Libyen droht ein Bürgerkrieg – und eine neue Flüchtlingskrise
In Libyen droht ein Wiederaufflammen des Bürgerkriegs – und damit die Gefahr eines neuen Flüchtlingsansturms nach Europa. Der starke Mann der libyschen Gegenregierung mit Sitz in Tobruk im Osten des Landes, General Chalifa Haftar, hat seine Truppen Richtung Westen abkommandiert. Der 75-jährige Militär will nicht nur die Hauptstadt Tripolis einnehmen, sondern das gesamte ölreiche Land. Damit droht ein blutiger Konflikt mit dem international anerkannten Präsidenten Fajis al-Sarradsch und dessen Kabinett in Tripolis. Das Problem: Al-Sarradsch ist schwach.
Seit mehr als einer Woche rollen Hunderte von Haftars Armeefahrzeugen mit schweren Geschützen Richtung Westen. Teile der Verbände bombardierten bereits den Süden von Tripolis. Doch die Soldaten von Regierungschef al-Sarradsch leisten Widerstand. Mehr als 40 Menschen wurden bereits getötet.
Westliche Beobachter warnen vor einer gefährlichen Eskalation. Das Afrika-Kommando der US-Streitkräfte zog ein Kontingent aufgrund der Unruhen vorübergehend aus dem Krisenland ab.
Damit wächst die Gefahr einer neuen Migrantenwelle aus Nordafrika. Nach dem Ausbruch der Flüchtlingskrise im Herbst 2015 war Libyen zunehmend zum Transitland für Menschen geworden, die sich von Orten südlich der Sahara auf den Weg Richtung Europa machten. Die meisten legten mit klapprigen Holz- oder nicht seetauglichen Gummibooten von der libyschen Küste ab und wollten nach Italien.
Dies änderte sich im März 2018. Die neue Regierung in Rom, in der Innenminister Matteo Salvini von der rechtspopulistischen Lega-Partei den Ton angibt, sperrte die Häfen für Migrantenschiffe. Seitdem verlagerten sich die Flüchtlingsrouten nach Westen. 2018 setzten nur noch 23.000 Migranten von Libyen nach Italien über, ein Rückgang von 80 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Dagegen flohen rund 57.000 Menschen von Marokko nach Spanien, doppelt so viele wie ein Jahr zuvor.
Die sinkenden Flüchtlingszahlen aus Libyen liegen jedoch nicht nur an Salvini & Co. Die EU unterstützt die libysche Küstenwache von Präsident al-Sarradsch mit Geld und Personaltraining. Humanitäre Organisationen werfen dem Grenzschutz vor, Boote abzufangen und die Flüchtlinge zurück in Lager zu bringen, wo Gewalt, Folter und Vergewaltigungen an der Tagesordnung sind. Nach Schätzungen des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) befinden sich immer noch etwa 670.000 Migranten in Libyen. Sollte sich die Konfrontation zwischen Haftar und al-Sarradsch ausweiten, dürfte dies die Notlage der Flüchtlinge verschärfen. Die Vereinten Nationen wollen trotz der Zuspitzung an der für Mitte April geplanten Versöhnungskonferenz festhalten.
Nach dem Sturz von Diktator Muammar al-Gaddafi durch eine Militärintervention des Westens im Jahr 2011 versank Libyen im Chaos. Die staatlichen Strukturen brachen zusammen. Das Land zerfiel in einen Flickenteppich, in dem Hunderte Clans, Warlords und Milizen die Herrschaft unter sich aufteilten. Seit 2016 wird al-Sarradsch von den meisten Staaten als Präsident Libyens anerkannt. Doch im Osten des Landes hat sich eine Gegenregierung etabliert, die unter dem Oberbefehl von General Haftar steht. Dessen Truppen haben aber auch weite Teile des Südens und Westens erobert, einschließlich wichtiger Ölfelder.
Haftar ist ein geschickter Taktierer, der buntscheckige Bündnisse mit Milizen, Clans oder Söldnern schmiedet. Der General inszeniert sich gern als Vorkämpfer gegen radikalislamische Kräfte und kann nicht zuletzt deshalb auf Hilfe aus dem Ausland zählen – vorneweg aus Ägypten und den Vereinigten Arabischen Emiraten. Sie sehen den Militär als ihren Mann, um die islamistischen Muslimbrüder zu bekämpfen, die sie zur Terrororganisation erklärt haben. Gute Kontakte pflegt Haftar auch zu Saudi-Arabien, Russland und Frankreich.
Genau das ist das Problem: Nicht einmal Europa verfügt über eine abgestimmte Libyen-Strategie. Rom unterstützt al-Sarradsch, Paris Haftar. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat aus dem Scheitern des „Arabischen Frühlings" die Lehre gezogen, dass für die Stabilität in Nordafrika „starke Führer" gebraucht werden – Leute wie Haftar. Libyen wird wieder einmal zum Spielball der Mächte. Mit verheerenden Konsequenzen: Der Staat zerfällt immer weiter, der Flüchtlingsdruck steigt.