Spektakuläre Tanzszenen, bewegte Riesen-Skulpturen, dazu ein Sound angelehnt an Mussorgskys „Bilder einer Ausstellung". Das sind die Zutaten für die Show „Flying Pictures" im Hamburger Bahnhof in Berlin.
Dunkel ist es und still. Doch das bleibt nicht lange so. Denn quasi aus dem Nichts senken sich von der Decke der riesigen Halle flimmernde, flackernde LED-Bilderrahmen hinunter bis zu einer Art Schaukasten. Ein grummelnder Klangteppich erfüllt den Raum – ein junger Mann springt in das jetzt hell erleuchtete Bühnenquadrat. Nähert sich vorsichtig den Bilderrahmen, bevor der Soundteppich unverkennbar in das Motiv des „Gnoms" aus Modest Mussorgskys „Bilder einer Ausstellung" übergeht. Und nun scheint durch die grotesk verzerrten Bewegungen des Tänzers immer wieder der „Gnom" hindurch. Das ist der Auftakt für eine rund 90 Minuten lange Show, die Elemente unterschiedlicher Tanzstile, klassische und zeitgenössische Musik und mehrere Meter große bewegte Skulpturen zusammenbringt.
„Flying Pictures" lautet der Titel der Collage aus zehn Bildern, die sich inhaltlich und musikalisch an Modest Mussorgskys „Bilder einer Ausstellung" orientiert. Und bei der die in Berlin gegründete und längst weltweit agierende Urban-Dance-Company „Flying Steps" mit einem Komponistenduo, mehreren Choreografen und den Künstlerbrüdern „Osgemeos" aus Brasilien zusammengearbeitet hat.
Als er das erste Mal auf die „Bilder einer Ausstellung" angesprochen wurde, erzählt Vartan Bassil, der Gründer und Leiter der „Flying Steps", habe er das Werk gar nicht recht einordnen können. Doch dann begann er sich für die Programmmusik zu interessieren, für das Original von Mussorgsky ebenso wie für die Bearbeitung für Orchester von Maurice Ravel. Schnell wurde ihm klar, dass die musikalische Schilderung des Rundgangs durch eine Ausstellung mit höchst unterschiedlichen Gemälden die perfekte Grundlage für eine Show bilden könnte, bei der man selbst Stile mixen, verschiedenste Kunstformen zusammenbringen könnte. Gesagt, choreografiert – oder fast. Denn zunächst ging es darum, weitere Künstler für die Idee zu begeistern – und den passenden Aufführungsort zu finden.
Wie gut, dass die „Flying Steps" bereits in der Neuen Nationalgalerie aufgetreten waren! 2010 hatte Museumschef Udo Kittelmann die Ausnahme-Streetdancer in sein Haus geholt, wo ihre erste abendfüllende Produktion „Flying Bach" zu Klavier-und Celloklängen innerhalb kürzester Zeit zum Mega-Erfolg wurde und sich auf Youtube weltweit verbreitete.
Bewegliche Kunstwerke
Kittelmann war gleichermaßen erstaunt wie begeistert, dass das Experiment derart geglückt war. Und sorgte nach dem Motto „Ein Museum muss immer Neues und Kreatives auf die Beine stellen, so mutig sein wie seine Künstler" dafür, dass der Hamburger Bahnhof nun Aufführungsort für die Tanz-, Musik- und Kunstcollage „Flying Pictures" ist.
Ein Ort, der passender kaum sein könnte. Denn das Kernstück des ehemaligen Bahnhofsgebäudes aus dem 19. Jahrhundert ist eine riesige Halle, deren Decke von wuchtigen Metallpfeilern getragen wird. An der Rückwand lehnt eine riesige sitzende Skulptur: „B-Boy Giant" ist nur eine von mehreren überdimensionalen teils ziemlich fantastischen Figuren, halb Mensch, halb technische Spielerei. Mal mit integrierten Lautsprecherboxen, mal mit stilisierter VR-Brille, dann wieder als fahrbare Beatbox. Allesamt augenzwinkernde Referenzen an Streetart und -kultur.
Entworfen und konzipiert wurden die knallbunten Kunstwerke von den brasilianischen Künstlerzwillingen Gustavo und Otavio Pandolfo, bekannt als „Osgemeos". Schon immer hätten sie in ihrer Heimat interdisziplinär gearbeitet, erzählen die Brüder, meist an der Schnittstelle zwischen Hip-Hop, Street-Art, Bildhauerei und Musik. Früher malten sie ihre schmallippigen Gestalten auf Häuserwände und Güterwaggons – mit Pinsel und Farbe, denn teure Spraydosen konnten sie sich damals nicht leisten. Diese Zeiten sind längst vorbei, denn die Zwei von „Osgemeos" sind weltweit gefragt, werden schon mal in einem Atemzug mit Banksy genannt. Kein Wunder also, dass Vartan Bassil die angesagten Brasilianer und ihre farbenfrohen Kunstwerke mit dabeihaben wollte. Nicht zuletzt, weil sie neben der musikalischen und tänzerischen die bildhafte Komponente verleihen, die ja Ausgangsidee für Mussorgskys Musik war.
Und die haben die indisch-deutschen Brüder Ketan und Vivan Bhatti ordentlich gegen den Strich gebürstet. Die beiden Komponisten bewegen sich zwischen klassischer Musik und Jazz, sie mixen zeitgenössische Klänge und urbane Sounds. Dabei entstand eine Neukomposition, durch die das Original noch ordentlich hindurchtönt.
Bereits für die beiden letzten Shows der „Flying Steps" hatten die Bhatti-Brüder die Musik komponiert. Jetzt wollten sie die Technik der zeitgenössischen Musik des 20. Jahrhunderts als Grundlage nutzen. Aber sie auch verändern, weiterentwickeln. Beispielsweise, indem Instrumente anders als gewohnt gespielt werden, man ihnen so gänzlich neue Sounds entlockt. Vivan Bhatti beschreibt den kreativen Prozess als „Überschreibung". Eine ähnliche Technik sei bei antiken Schriftstücken angewandt worden, bei denen eine Manuskriptseite abgeschabt wurde, um für ein anderes Dokument wiederverwendet zu werden. Und so kommt der Soundtrack zu „Flying Pictures" stellenweise stark rhythmisiert daher, wird live gespielt vom Berlin Music Ensemble, lässt die Originalmusik verfremdet immer wieder durchscheinen, unterbrochen von Beatbox-Sequenzen. Sie gehören zu den Highlights des Abends, denn Mando, alias Daniel Mandolini, übernimmt nicht nur vorübergehend den Part des gesamten Orchesters, sondern gibt den Tänzern auch mit seinen Sounds rhythmische oder klangliche Vorgaben für ihre individuellen Moves.
Livemusik furios vertanzt
Überhaupt, der Tanz. Ein Choreografen-Team hat für die Bilderfolge verschiedenste Tanzstile bunt durcheinandergewirbelt, lässt auf Spitze tanzen, nimmt Anleihen beim brasilianischen Kampftanz Capoeira oder auch beim Modern Dance. Doch es wäre keine Produktion der auf internationalen Bühnen gastierenden „Flying Steps", wenn nicht letztlich Breakdance und Streetdance-Styles im Mittelpunkt stünden. Atemberaubend, wie sich da die Tänzer in bunten Retro-Trainingsanzügen durch die Luft schleudern, auf dem Kopf bis zum Schwindelanfall beim Zuschauer kreiseln. Scheinbar kurz kopfüber in der Luft bei spektakulären Sprüngen verharren, der Schwerkraft trotzen. So beispielsweise beim Bild „Tuilerien", dessen Untertitel „Spielende Kinder im Streit" als furioses Dance Battle umgesetzt wird. Temporeiche Sequenzen wechseln mit lyrischen Momenten oder humorvollen Szenen. Wie etwa beim Bild „Das alte Schloss", das hier als ziemlich akrobatischer Streit eines Pärchens um einen schnöden Sitzhocker ideenreich durchdekliniert wird. Bei dem wie eine weitere Ebene auch das Motiv einer in die Brüche gegangenen Beziehung, einer verlorenen Liebe hindurchschimmert.
Oder aber die „Hütte der Baba Jaga", der Hexe, ein farbenfrohes Kunstwerk der „Osgemeos"-Zwillinge, das eher einer brasilianischen Favela als einem russischen Wald entstammen könnte. Es ist auf ein rollbares Gestell montiert, das von der unheimlichen in Rot gewandeten Baba Jaga um die Bühne herumgefahren wird. Und aus dessen Deckung heraus sie die Tänzer in ihren Bann zieht, diese sich wie in Trance zu bewegen scheinen.
„Flying Pictures" bringt virtuosen Streetdance, klassische und zeitgenössische Musik mit angesagter Urban Art zusammen. Und lockt vielleicht sowohl diejenigen Zuschauer in den Hamburger Bahnhof, für die Mussorgsky noch eine Entdeckung ist, als auch ein Publikum, das mit Hip-Hop und Breakdance bislang keine Berührungspunkte hatte.