Die Katastrophe von Hillsborough ist eine der schwersten in der Geschichte des Profifußballs und hat diesen nachhaltig verändert. Am 15. April 1989 mussten 96 Menschen sterben, weil die Polizei vor Ort schwere Fehler machte, diese 23 Jahre lang erfolgreich vertuschte – und sogar die Opfer für das Unglück verantwortlich machte. Der Einsatzleiter von damals steht heute, 30 Jahre später, vor Gericht.
Wer die Bilder einmal gesehen hat, kriegt sie nie wieder aus dem Kopf. Vor Angst und Schmerz verzerrte Gesichter, die an die Gitter eines massiven Stahlzauns gedrückt werden. Ohne Chance, sich aus dem Gedränge zu befreien. Die Verzweiflung in den Augen der Opfer; wissend, dass sie gleich sterben werden. Dabei wollten sie doch nur ein Fußballspiel sehen.
Es ist der 15. April 1989, ein Samstagnachmittag gegen 14.50 Uhr im Hillsborough-Stadion von Sheffield Wednesday. Wie bereits im Vorjahr stehen sich an diesem Tag der FC Liverpool und Nottingham Forrest erneut im Halbfinale des traditionsreichen englischen Pokals, dem FA Cup, gegenüber. Im Vorjahr hatte sich Liverpool knapp mit 2:1 durchgesetzt, und die Fans beider Lager fiebern der Neuauflage des Duells entgegen.
Nur noch zehn Minuten bis zum Anpfiff. Zwei Blöcke der Liverpool-Fans sind bereits komplett gefüllt, doch noch immer warten etwa 3.000 Anhänger darauf, ins Stadion gelassen zu werden. Je näher der Anstoß rückt, desto unruhiger wird die Menge vor dem Stadion. Niemand will das Spiel verpassen. Anstatt die Fans zu anderen Eingängen umzuleiten, trifft die Polizei eine folgenschwere Entscheidung. Sie öffnet eines der Fluchttore, wodurch die wartenden Fans unkontrolliert ins Stadion strömen – und in die ohnehin schon überfüllten Blöcke. Nicht der letzte Fehler der Polizei an diesem Tag.
Bereits bei Anpfiff sind 21 Menschen tot
Bilder der TV-Sender BBC und RTÉ zeigen, dass große Teile der Stadionbesucher und auch die Fernsehsender selbst die Katastrophe im Liverpooler Block zunächst gar nicht registrieren. Das Spiel wird pünktlich um 15 Uhr angepfiffen. Heute ist klar, dass zu diesem Zeitpunkt bereits 21 Menschen tot sind. Als die Kamera nach etwa einer Minute bei einem Eckball Nottinghams zum ersten Mal in den Liverpooler Strafraum schwenkt, sieht man, wie es hinter dem Tor immer mehr Fans gelingt, über den Zaun zu klettern und in den Innenraum zu gelangen. Dennoch kommentieren die Sprecher weiter nur das Spiel. Nach viereinhalb Minuten schwenkt die Kamera erstmals näher ans Geschehen im Liverpooler Block heran. Inzwischen stehen oder liegen bereits Dutzende Menschen hinter dem Liverpooler Tor – den Blick in den Block gerichtet und keineswegs aufs Spielfeld. Weitere Fans versuchen verzweifelt, sich über den Sicherheitszaun aufs Spielfeld zu retten. Jenen Zaun, der so konstruiert ist, dass Fans es eigentlich nicht schaffen sollen, ihn zu überwinden und in den Innenraum des Stadions zu gelangen. Noch immer läuft das Spiel einfach weiter. Erst nach knapp sechs Minuten rennt ein Polizist in Richtung Schiedsrichter, um das Spiel unterbrechen zu lassen.
Allerdings schätzt die Polizei die Lage selbst zu diesem Zeitpunkt noch immer vollkommen falsch ein. Was folgt, sind verstörende Bilder. Statt zu helfen, drängen die Polizisten Menschen, die aufs Spielfeld flüchten, zunächst in Richtung Block zurück. Wer sich über den Gitterzaun aufs Spielfeld retten möchte, wird ebenfalls zurückgedrängt. Dabei zeigen die Fernsehkameras längst immer mehr Menschen, die auf dem Platz liegen und verzweifelt nach Luft ringen, während die Polizei offenbar noch immer glaubt, einen Platzsturm gewaltbereiter Fans verhindern zu müssen.
Einigen Fans im Liverpooler Block gelingt es, sich auf die Tribüne über ihrem Block zu hangeln. Die Kommentatoren des irischen Fernsehens spekulieren zu diesem Zeitpunkt noch, dass es wohl keine ernsthaften Verletzungen gebe, da man keinerlei Ambulanz sehe. In der Tat dauert es nach Spielabbruch weitere geschlagene zehn Minuten, bis der erste Rettungswagen kommt. Wie sich später herausstellt, hat die Polizei Rettungskräfte zunächst nicht ins Stadion gelassen. Stattdessen ist zu sehen, wie Zuschauer Werbetafeln von den Banden entfernen und diese als Tragen für Verletzte benutzen.
Verzweifelt versuchen einige Fans, andere wiederzubeleben. Für 94 Menschen allerdings kommt jede Hilfe zu spät, ein weiteres Opfer stirbt wenige Tage später, ein letztes Opfer nach vierjährigem Koma – erlitten infolge des massiven Sauerstoffmangels. 766 Menschen werden zum Teil schwer verletzt. Die meisten der Opfer sind Jugendliche oder junge Erwachsene weit unter 30 Jahren. Das jüngste Opfer, Jon-Paul Gilhooley, ist zehn Jahre alt und ein Cousin der späteren Liverpool-Legende Steven Gerrard, der das Geschehen als Achtjähriger vor dem Fernseher verfolgt.
Die „Sun" transportierte die Lügen der Polizei als große Schlagzeilen
Das eigentliche Martyrium der Angehörigen der Opfer aber beginnt erst nach dem Unglück – und dauert mehr als zwei Jahrzehnte. Sie alle müssen mit einer Lüge leben – und einer beispiellosen Vertuschungsaktion der Polizei von South Yorkshire um deren Einsatzleiter David Duckenfield und seinen Stellvertreter Bernard Murray. Über das Boulevardblatt „Sun", Englands meistverkaufte Tageszeitung, versucht die Polizeiführung eigene Fehler zu vertuschen und die Schuld an der Katastrophe den Liverpooler Fans, die laut Polizei alle alkoholisiert waren, in die Schuhe zu schieben. Mit Erfolg. Die „Sun" titelt damals „Die Wahrheit – Einige Fans haben die Opfer bestohlen – Einige Fans haben auf die tapferen Polizisten uriniert – Einige haben Polizisten während Wiederbelebungsversuchen geschlagen".
Die Polizei hat leichtes Spiel. Der englische Fußball jener Zeit hat ein Hooligan-Problem und ist seit der Katastrophe im Brüsseler Heysel-Stadion vier Jahre zuvor überall verschrien. Englische Hooligans hatten 1985 vor dem Endspiel des Fußball-Europapokals der Landesmeister zwischen – bezeichnenderweise – dem FC Liverpool und Juventus Turin den Block der Juve-Fans gestürmt. In der daraus entstandenen Panik waren 39 Menschen getötet worden. Als Folge wurden alle englischen Clubs für fünf Jahre von allen europäischen Vereinswettbewerben ausgeschlossen.
Zeugen, die nach Hillsborough eine andere Version als die der Polizei schildern, werden nicht für voll genommen. Dabei gibt es schon recht früh Zweifel an der Version der Polizei von South Yorkshire. Eine offizielle Untersuchung unter Aufsicht von Lord Taylor of Gosforth, der sogenannte Taylor-Report, kommt 1990 zu dem Ergebnis, dass die Katastrophe hauptsächlich auf das Versagen der Polizei zurückzuführen sei. Konsequenzen für die Beamten hat er aber nicht. Dafür aber für den Fußball, wie man ihn bis dahin kennt. Auf Empfehlung des Taylor-Reports gibt es in englischen Stadien ab 1994 nur noch Sitzplätze, und auch alle Zäune zu den Spielfeldern werden entfernt. Der europäische Fußballverband Uefa und auch der Weltverband Fifa greifen die Empfehlungen wenig später auf und machen sie verbindlich für alle internationalen Begegnungen.
Anklageerhebung 28 Jahre nach Unglück
Immer wieder kommt die Katastrophe um die „96 von Hillsborough" in den kommenden Jahren hoch, aber erst im Jahr 2009 stellt der Liverpooler Abgeordnete Steve Rotherham im britischen Unterhaus den Antrag, eine erneute Untersuchungskommission einzuberufen – und das Parlament gibt dem Antrag statt. Im September 2012 schließlich legt die unabhängige Untersuchungskommission unter Vorsitz des Bischofs von Liverpool ihren 395-seitigen Abschlussbericht vor. Und der liest sich wie ein schlechter Groschenroman. Endlich kommt das ganze Ausmaß der Vertuschungsaktion ans Tageslicht. Demnach hat die Polizeiführung nicht nur versucht, eigene Fehler unter den Teppich zu kehren. Vielmehr seien sogar 164 Zeugenaussagen nachträglich von der Polizei verfälscht worden, heißt es dort.
Die Kommission kommt zum Schluss, dass an jenem 15. April „41 Menschen wahrscheinlich nicht hätten sterben müssen, sondern bis 15.15 Uhr hätten gerettet werden können". Zudem seien mehrere Opfer für tot erklärt worden, obwohl sie noch hätten gerettet werden können.
Das setzt endlich auch die Mühlen der Justiz in Bewegung. Im April 2016 kommt eine Jury juristisch zur gleichen Einschätzung wie die Kommission dreieinhalb Jahre zuvor. Das Gericht stellt klar, dass die 96 Opfer keinerlei Mitschuld an ihrem Tod treffe, sondern dass dieser ausschließlich auf das Versagen der Sicherheitskräfte zurückzuführen sei. Diese Einschätzung wiederum ruft die Staatsanwaltschaft auf den Plan. Sie erhebt im Juni 2017 Anklage gegen insgesamt sechs Personen – vier Polizeibeamte, einen Juristen und den ehemaligen Geschäftsführer von Sheffield Wednesday.
Einsatzleiter steht seit Januar 2019 vor Gericht
Einer der sechs ist der damalige Einsatzleiter David Duckenfield, heute Chief Superintendent im Ruhestand. Er muss sich seit Januar dieses Jahres wegen grob fahrlässigen Totschlags in 95 Fällen verantworten. Das 96. Opfer, das wie erwähnt erst vier Jahre nach dem Unglück verstarb, kann ihm nicht direkt angelastet werden. Sein damaliger Stellvertreter Murray kann nicht mehr belangt werden, da er 2006 an Krebs gestorben ist, wie die „Süddeutsche Zeitung" in einem Artikel Mitte Januar schreibt. Dem Bericht zufolge hatten sich beide bereits 1998 einer Zivilklage Angehöriger der Opfer stellen müssen. Demnach endete der Prozess 2000 mit Freispruch für Murray. „Im Fall Duckenfields fand die Jury zu keinem einhelligen Urteil", schreibt die „SZ".
Das könnte sich allerdings nach den neuen Beweisen von 2012 und der nach dem Bericht der Kommission erfolgten offiziellen Entschuldigung der Polizei von South Yorkshire ändern. Duckenfield allerdings will bis heute nichts von einer persönlichen Schuld an der Katastrophe vom 15. April 1989 wissen. Ihm droht im Falle einer Verurteilung lebenslange Haft. Das Urteil brächte zwar keines der 96 Opfer zurück, aber die Angehörigen könnten endlich mit der Katastrophe abschließen.