Die Frist ist verlängert, eine Lösung aber noch unklar. Der Brexit ist eine einmalige Herausforderung. Europaminister Peter Strobel über Lehren für die Zukunft Europas und eine Stärkung der Regionen.
Herr Strobel, die Entwicklung der letzten Wochen im Vereinigten Königreich hat auf dem Kontinent Unverständnis ausgelöst. Können Sie erklären, was dort eigentlich der Fall ist?
2016 haben die Briten für einen Austritt Ende März 2019 aus der EU gestimmt. Um einen ungeregelten Austritt Großbritanniens aus der EU zu vermeiden, wurde die ursprüngliche Brexit-Frist vom 29. März auf den 12. April verlängert. Die Briten sollten nicht mehr an der Europawahl am 22. und 23. Mai teilnehmen. Es soll auch keine rechtlichen Schwierigkeiten geben, wenn Großbritannien im Sommer noch EU-Mitglied sein sollte, aber keine Abgeordneten gewählt hat. Dieser Termin ist nun kaum noch zu halten. Vor allem, weil Theresa May nach wie vor keinen Rückhalt im britischen Parlament für den mit der EU ausgehandelten Austrittsvertrag hat. Beim EU-Sondergipfel wurde beschlossen, dass die Briten nun die Chance haben, bis Ende Oktober auszutreten. Es bleibt also weiterhin abzuwarten, wie das britische Parlament entscheidet. Theresa May strebt einen Austritt noch vor den Europawahlen an.
Die EU hat sich, bei aller erkennbaren Verärgerung, als außerordentlich geduldig erwiesen. Warum eigentlich?
Niemand in der EU möchte einen ungeregelten Brexit. Ich denke, gerade deshalb zeigen sich die EU-Mitglieder äußerst geduldig. Ein ungeregelter Brexit hätte auf alle Länder und alle Lebensbereiche enorme Auswirkungen. Bei einem harten Brexit, also einem EU-Austritt der Briten ohne Vertrag, müsste sich das Bundesland auf einen Einnahmeverlust beim BIP von 101 Millionen Euro im Jahr einstellen. Das sind knapp 277.000 Euro am Tag und 0,29 Prozent des saarländischen Bruttoinlandsproduktes (BIP) von 2017 (35,3 Milliarden Euro).
Pro Kopf beliefen sich die Einbußen damit auf 101 Euro. Nur Hamburg, Bremen, Nordrhein-Westfalen und Hessen würde ein solches Szenario noch härter treffen. Aber selbst bei einem weichen Brexit müsste das Saarland den Berechnungen zufolge immer noch mit einem Verlust von jährlich 56 Millionen Euro rechnen.
In Brüssel hört man die Klage, dass der Brexit viel Energie gebunden hat, die man eigentlich für andere Herausforderungen dringender gebraucht hätte. Hat der Brexit Europa auch in dieser Beziehung zurückgeworfen?
Der Austritt eines Kernlandes der europäischen Gemeinschaft wirft einen tief greifenden Schatten auf die Zukunft Europas. Ich würde aber nicht sagen, dass der Brexit Europa zurückgeworfen hat. Sicherlich wird viel Energie und Zeit in endlose Diskussionen – vor allem in Großbritannien –
aufgebracht. Aber ich glaube, der Brexit und die Diskussionen darüber geben Europa auch die Chance, das Selbstverständnis zu reflektieren. Darüber hinaus wird den Bürgerinnen und Bürgern vielleicht auch deutlich, was Europa alles ist.
Im Zuge des Brexits ist deutlich geworden, wie tief verbunden die EU inzwischen geworden ist, bis hin zu den Dingen, die wir längst als pure Selbstverständlichkeit angenommen haben. Hätte diese Erkenntnis nicht auch ein heilsamer Schock sein können?
Die souveräne Entscheidung eines einzelnen Mitgliedsstaates, die EU zu verlassen, darf niemals dazu führen, dass der europäische Gedanke und die Errungenschaften der Europäischen Union angezweifelt werden. Europa darf nicht als ein rein wirtschaftlicher Zusammenschluss opportunistisch agierender Staaten verstanden werden. Vielmehr ist unser Europa etwas anderes. Zunächst ist Europa – auch wenn es altmodisch ist, dies zu sagen – das Friedensprojekt schlechthin. Dieses Friedensprojekt ist aber weit mehr als die Abwesenheit von Krieg. Es stellt ein multilaterales und solidarisches Gegenmodell zu den vielfach zu beklagenden nationalistischen und egoistischen politischen Strömungen auf dieser Welt dar. Gerade jetzt ist dies von umso größerer Bedeutung. Und Frieden und Freiheit in Europa gehen einher mit Wohlstand und Wachstum. Gerade wir Deutschen spüren diese Vorteile. Ich würde mich freuen, wir würden uns öfter an die vielen facettenreichen Vorteile von Europa erinnern, als über seine Nachteile zu diskutieren.
Zum ersten Mal haben die übrigen 27 Mitgliedsstaaten einstimmig und konsequent zusammengestanden. Warum gelingt das nicht auch bei anderen großen Fragen?
Ich glaube, bei den großen Fragen wie zum Beispiel Klimawandel, EU-Haushalt und Migration muss die EU im Großen entscheiden. Und auch da ist es wie in einer guten Beziehung: Es gibt unterschiedliche Meinungen und Ansichten und man muss Kompromisse eingehen. Das klappt auch in der Regel. Natürlich kommt es aber auch zu Diskussionen bei Themen, die möglicherweise nicht alle 27 Länder in gleicher Weise betreffen. Das wiederum führt zu Unstimmigkeiten. Deshalb denke ich, dass es eine Lösung sein könnte, wenn es wieder mehr Subsidiarität in der EU gäbe. Im vergangenen Jahr war ich für den Bundesrat auf der Subsidiaritätskonferenz in Bregenz unter dem Vorsitz Österreichs als EU-Ratsvorsitzland. Meiner Meinung nach müssen die Regionen der Mitgliedsstaaten mehr eingebunden werden. Wer, wenn nicht sie, wissen genau, welche Regeln und Vorschriften wie umgesetzt werden können und wie es funktioniert? Nur durch mehr Einbindung der Regionen schaffen wir im Umkehrschluss auch wieder ein bürgernahes Europa. Starke Regionen sind der Motor einer starken EU!
Am Anfang, nach dem Votum, gab es Befürchtungen, der Brexit könne auch andernorts Schule machen. Das ist einerseits nicht eingetreten, andererseits gibt es inzwischen in etlichen Mitgliedsstaaten, auch Deutschland, Parteien, die einen Ausstieg befürworten. Wie ernst zu nehmen ist das vor dem Hintergrund der Erfahrungen der letzten beiden Jahre?
Das müssen wir natürlich ernstnehmen. Gerade vor diesem Hintergrund müssen wir aber auch auf die Wichtigkeit des nationalen und europäischen Zusammenhalts aufmerksam machen. Wir müssen den Menschen eindringlich vermitteln, wie gut es ihnen geht, dass das Friedensprojekt der EU nicht nur eine Floskel, sondern Realität ist. Europäer sein bedeutet, dass meine eigenen personenbezogenen Daten durch strenge europäische Gesetze geschützt werden. Finanzielle Unterstützung unserer Landwirte, unserer grenzüberschreitenden Projekte oder Unterstützung im Bildungsbereich, ich denke da zum Beispiel an die Erasmus-Programme – auch das ist Europa. Europa steht aber auch für Fairness, beispielsweise im Bereich der Steuern. Steuergerechtigkeit herzustellen ist ein wichtiges Element. Ich würde mich freuen, wir würden uns öfter an die vielen facettenreichen Vorteile von Europa erinnern. Und wenn wir das alles schaffen, dann haben solche Parteien keine Chance.