Preußen war sein Thema. Er hat es geliebt und gehasst, mit seinem Militarismus, dem Spießertum und dem gnadenlosen Standesdenken. Andererseits ging es für ihn aber auch nicht ohne Treue, Ehrlichkeit, Pflicht und Liebe zur Heimat. Fontane, aus einer aus Frankreich eingewanderten Hugenottenfamilie, lässt uns die Menschen verstehen, die in diesem Land lebten.
Warum sollte man Theodor Fontane noch lesen? Die Welt, die er beschrieb, ist unwiederbringlich untergegangen, Preußen ist Geschichte, der Adel verschwunden, das Militär entmachtet – und Effi Briest würde heute nicht mehr sterben. Seine Romane handeln von verarmten Adeligen, von Ehebruch und an Standesschranken scheiternden Liebesbeziehungen, von Kleinbürgern, Fabrikbesitzern, liederlichen Offizieren und kreuzbraven jungen Frauen. Es werden viele Gespräche geführt, lange Briefe geschrieben und alte Sagen erzählt.
Und doch lohnt es sich, Fontane zu lesen. Denn es sind die Menschen in seinen Romanen, die er beschreibt, ihre Eigenarten, ihre Charaktere. „Frau Jenny Treibel" möchte gern vornehm sein und tut gebildet, ist aber nur eine geborene Bürstenbinder und die Frau eines reich gewordenen Fabrikbesitzers. „Die Poggenpuhls" sind eine verarmte Offiziersfamilie. Drei Töchter und ein Sohn behaupten sich tapfer gegen die finanzielle Kargheit. Es geht um Besitz, echte und falsche Gefühle, Bildung, Dünkel und ums Heiraten. Beide Romane sind als Fortsetzungsromane (heute gibt es so etwas nicht mehr) in Berliner Zeitungen erschienen und werden bis heute wegen ihrer Ironie, Leichtigkeit und Menschlichkeit gerne gelesen.
Ein liebevoller Beobachter
Fontane schreibt nie anklagend, nie parteilich für oder gegen „das" Militär, „die" Juden, „den" Adel oder „das" Bürgertum: Er lässt den Leser verstehen, was seine Figuren antreibt, er sieht immer zwei Seiten einer Medaille. Selbst der Selbstmord des – in unseren Augen verächtlichen – Schach von Wuthenow wird erklärt: ein Offizier, der lieber in den Tod geht, als auf Befehl des Königs mit einer Frau verheiratet zu sein, für die ihn sein Regiment verspottet. Von Bülow, ein ehemaliger Offizier und Freund des Schachs: „Da haben Sie das Wesen der falschen Ehre. Sie macht uns abhängig von dem Schwankenden und Willkürlichsten, was es gibt, von dem auf Triebsand aufgebaute Urteile der Gesellschaft, und veranlasst uns, die heiligsten Gebote, die schönsten und natürlichen Regungen eben diesem Gesellschaftsgötzen zum Opfer zu bringen." Dieser „Götze", also die öffentliche Meinung, taucht dann wieder in „Effi Briest" auf.
Fontane schrieb vor dem Hintergrund der sich rasch wandelnden preußischen Ständegesellschaft. In seinem langen Leben erlebte er die Industrialisierung mit, vor allem bei seinen Aufenthalten in England, aber auch bei Borsig in Berlin. Er sah die Enge und Bedürftigkeit, in der die armen Leute leben mussten. Er beschrieb mittellose Adelige und reich gewordene Bürger („Bourgeois"). Und ihm entging nicht, dass Frauen immer selbstbewusster wurden – seine eigene Tochter studierte am Lehrerinnenseminar in Berlin, dem damals fortschrittlichsten Bildungsinstitut für Frauen. Auch das greift er auf und schildert in „Mathilde Möhring" eine Frau, die aus einem schlaffen Jura-Assessoren einen respektablen Bürgermeister macht und mit ihm in die höheren Kreise aufsteigt.
In dieser Gesellschaft lebte er – und als eifrigem Zeitungsleser entging ihm die politische und gesellschaftliche Entwicklung nicht. Mit der Gegenwart Preußens hat er immer gehadert. Bei der bürgerlichen Revolution 1848 stand er in Berlin nach eigener Aussage mit einem aus dem Theater geklauten Gewehr hinter einer Barrikade, die er bald wieder verließ, weil er mit dem Pulver nicht zurechtkam. Kurze Zeit später – die Paulskirchen-Versammlung war auseinandergetrieben worden, die preußischen Truppen schlugen überall den revolutionären Widerstand nieder – ging er so weit, Preußen das Ende zu wünschen: „Jeder andere Staat kann und mag in Deutschland aufgehen; gerade Preußen muss darin untergehen." Wie nach den Befreiungskriegen 1813 sei das Volk auch nach 1848 durch die Zurücknahme der Verfassung um seine Freiheit betrogen worden, die eine konstitutionelle Monarchie hätte gewähren können, wie das die Stein-Hardenbergschen Reformen vorsahen. In seinem ersten Roman „Vor dem Sturm", den er mit fast 60 Jahren schrieb, lässt er die Offiziere darüber reden, dass die Treue zum Land wichtiger sei als die Treue zum König, und dass man Millionen von Leben nicht von den Entscheidungen einer Person abhängig machen könne.
Starke Worte! Ist Fontane also doch ein Demokrat? Es sind meistens seine „Märker", die so reden, wie zum Beispiel der alte Dubslav von Stechlin. Die hat er ins Herz geschlossen, ihnen hat er durch seine Wanderungen durch die Mark Brandenburg ein Denkmal gebaut. Diese alteingesessenen Junker, Großgrundbesitzer, Feudalherren aber waren alles andere als Demokraten: Als 1849 das preußische Dreiklassenwahlrecht eingeführt wurde, konnten die wenigen ganz Reichen der „ersten Klasse" ebenso ein Drittel der Wahlmänner bestimmen wie die zweite oder gar dritte Klasse, zu der über 80 Prozent der Bevölkerung gehörten. 1862 kandidiert Fontane selbst für die Konservativen – und fällt durch, genau wie Dubslav von Stechlin viele Jahre später in seinem Roman. Er lässt sich, allerdings widerstrebend, zu einer Nachwahl aufstellen – und verliert zugunsten des sozialdemokratischen Kandidaten. Fontane kommentiert das Wahlverfahren nicht weiter, er schildert aber ausführlich, dass der Ausgang den Konservativen eigentlich herzlich egal ist. Sie gehen lieber „zu Tisch", auch ohne dass es etwas zu feiern gäbe – so sicher vertrauen sie darauf, dass sich an den hergebrachten Verhältnissen schon nichts ändern werde. Da denkt der Autor weiter.
Verkauft „Für 30 Silberlinge"
„Bei aller Liebe", schreibt Regina Dieterle in ihrer Biografie, „die Fontane für den märkischen Landadel hegte, die Position seines Dubslavs teilte er nicht. Oder nicht mehr: ‚Die Menschheit fängt nicht beim Baron an‘, so war er (Fontane) jetzt überzeugt, sondern, nach unten zu, beim 4. Stand; die 3 andern können sich begraben lassen.‘" Er wusste, dass die Verhältnisse, so wie sie waren, kritisiert, angeprangert, reformiert werden mussten: die Standesschranken, die Arroganz des Militärs, die Verachtung der Armen, die Unterdrückung der Meinungsfreiheit. Auch Bismarck passte ihm nicht, weil er das Parlament ignorierte, wenn er seine Politik umsetzen wollte, und sich selbstherrlich über alle anderen stellte. Doch den Schritt hin zu einem Verfechter der Demokratie, den tat er nicht.
Aber war er dann wenigstens ein „Republikaner", also einer, der den Adel abschaffen, den König entmachten wollte? In seiner empörten Reaktion auf die Niederschlagung des Märzaufstandes 1848 bezeichnete er sich selbst als solchen, aber schon zwei Jahre später schrieb er, durch die Verhältnisse gezwungen: „Ich gelte für einen roten Republikaner, … und bin doch ein Reactionär reinsten Wassers." Er wollte einen Staatsposten im Medienbereich ergattern, zunächst im von Merckel geleiteten „Literarischen Cabinet", später in der „Centralstelle für Preßangelegenheiten". Ihre Aufgabe: unabhängige Zeitungen zu überwachen und, wo es ging, sie durch Subventionen in regierungsfreundliche Blätter umzuwandeln.
Fontane schaffte es auf die Stelle und hatte zum ersten Mal ein regelmäßiges Einkommen. Aber er wusste, dass er sich „der Redaction für 30 Silberlinge" verkauft hatte. „Man kann nun mal als anständiger Mensch nicht durchkommen." Er konnte es sich lange Zeit schlicht nicht leisten, offen als Republikaner, geschweige denn als Demokrat aufzutreten. Dieses Dilemma dauerte an, bis er von seinen Büchern leben konnte. „Er hatte kein Geld, wenn er frei war, und er hatte Geld, wenn er unfrei und abhängig war" (Hans Dieter Zimmermann). Überhaupt, so sagt er in seinen Erinnerungen einmal von sich selbst, seien seine politischen Ansichten „allerdings zu allen Zeiten etwas wackliger Natur gewesen".
Das gilt auch für seine Ansichten über „die Juden". In den 1870er- und 1880erJahren gab es eine starke antisemitische Strömung, die von dem Hofprediger Stoecker und dem Historiker Treitschke angefacht wurde. Jüdische Mitbürger wurden erfolgreiche Bankiers, gründeten Unternehmen, kauften verlassene Rittergüter. Fontane hat erlebt, dass ein enger Freund, Otto Brahm, seinen jüdischen Namen ändern musste, um beruflich voranzukommen.
Reform? Ja, aber nicht vom Volk!
War er ein Antisemit? Seine Ansichten waren zumindest doppeldeutig: Einerseits bemerkt er nach vielen Berliner Mittags- oder Abendgesellschaften, wie unsympathisch ihm die anwesenden Juden waren. Andererseits: Der christliche Rest habe ihn genauso angewidert (Wolf Lepenies, Die Welt, 14.3.2019). Einerseits vermisst er die Stechow, die Bredow, die Quitzow und Rochow, also den märkischen Kleinadel, bei seinem 70. Geburtstag. Andererseits freut er sich, dass die Meyers, die Pollacks, die Isacks und die Cohns gekommen sind („Alle haben sie mich gelesen"). Regina Dieterle, die ihn genau kennt, schreibt: „Es lässt sich ein ganzes Buch von (brieflichen) Äußerungen zusammenstellen, in denen Fontane sich abfällig bis zur Infamie über seine jüdischen Zeitgenossen äußert. Sie tauchen ab 1880 auf und werden mit der Zeit schärfer." Aber das ist eben nicht der ganze Fontane. In seinen Romanen hat er sich eher wohlwollend und zurückhaltend geäußert. Sein großes Thema blieb das alte, das in seinen Augen bessere Preußen. So verteufelte er dieses aus „Pflichttrampeln und Dienstknüppeln" bestehende Land, aber stellte ihm ein idealisiertes Bild des alten Preußens entgegen. Er bekannte sich als Republikaner und meinte, wenn alle diese Quitzows, Itzenplitze und von Arnims einmal fehlten, würde das kein Mensch merken. Aber er hielt doch fest an den alten Tugenden der Pflichterfüllung, Ehrlichkeit, Treue und militärischen Tapferkeit. Er verlangte, die Gesellschaft müsse sich „verdemokratisieren", denn Millionen von Arbeitern und Handwerkern seien „gerade so gescheit, gebildet, so ehrenhaft wie Adel und Bürgerstand, vielfach sind sie ihnen überlegen" (zitiert nach Lepenies). Aber eine Reform erwartete er vom preußischen König, die wollte er nicht dem Volk überlassen.
„Mein Hass gegen alles, was die neue Zeit aufhält, ist in einem beständigen Wachsen, und die Möglichkeit, ja die Wahrscheinlichkeit, dass dem Sieg des Neuen eine furchtbare Schlacht vorausgehen muss, kann mich nicht davon abhalten, diesen Sieg des neuen zu wünschen." (Brief an Friedländer vom 6. Mai 1895) Und darüber zu reden, wie es im „Stechlin" geschieht. Wir sind in Preußen, aber hier reden alle mit allen, der Kutscher mit dem Grafen, die Offiziere mit den Stiftsdamen, die Lehrer mit den Oberförstern, die Pförtner mit den Adeligen, die Männer mit den Frauen – es ist ein Roman, in dem fast nichts geschieht, aber endlos Worte gewechselt werden. In diesem Reden entfalten und entdecken sich Fontanes Figuren wie von selbst. Fehlt das Gespräch, wie bei Effi Briest, kommt es zur Katastrophe. Effis Mann von Instetten redet nicht, er schießt. Crampas, Effis Geliebter, fällt im Duell. „Es ist das uns tyrannisierende Gesellschafts-Etwas… Ich muss!", sagt von Instetten.
Fontane war gelernter Apotheker. Würde man ihn heute nach den „Risiken und Nebenwirkungen" seiner Romane fragen, würde er wohl darauf verweisen, dass miteinander reden immer hilft.