Für Timo Boll und Co. ist die Tischtennis-WM ab Ostersonntag nur eine Durchgangsstation. Der Fokus der Schmetterkünstler ist schon auf die Europaspiele im Juni gerichtet, wo die deutschen Teams die Olympia-Qualifikation erreichen wollen.
Der Terminstress im Tischtennis wertet inzwischen sogar ein WM-Turnier ab. Die Titelkämpfe ab Ostersonntag in Budapest sind für die deutschen Asse um Topstar Timo Boll und die neue Deutsche Meisterin Nina Mittelham vom Bundesliga-Spitzenteam TTC Eastside Berlin trotz ihrer formal hohen Bedeutung im vorolympischen Jahr lediglich eine Zwischenstation. Der wichtigste Wettbewerb 2019 sind für die Teams des Deutschen Tischtennis-Bundes (DTTB) die Europaspiele in Minsk, wo die ersten Tickets zu den Sommerspielen 2020 in Tokio ausgespielt werden. „Die WM hat automatisch einen hohen Stellenwert und wird auch immer einen hohen Stellenwert behalten. Aber in der besonderen Konstellation dieses Jahres haben wir natürlich auch immer schon die Europaspiele im Hinterkopf", beschreibt DTTB-Sportdirektor Richard Prause die durchaus eigentümliche Situation.
Boll und Franziska hoffen im Doppel auf einen Podestplatz
Dennoch wollen sich Boll und Co. in der ungarischen Hauptstadt natürlich bestmöglich verkaufen. Medaillenchancen sind allerdings rar gesät. Der Weltranglistenfünfte Boll als einmal mehr größter Hoffnungsträger im DTTB-Aufgebot kämpfte im WM-Vorfeld mit Formproblemen und hat dadurch womöglich im Doppel mit Top-20-Spieler Patrick Franziska bessere Aussichten auf einen Podestplatz. Für Europe-Top-Gewinner Dimitrij Ovtcharov wäre bereits der erste Einzug seiner Karriere in ein WM-Viertelfinale ein Erfolg. Im Damen-Bereich sind dem Europameisterinnen-Doppel mit der Deutschen Meisterin Nina Mittelham vom Bundesliga-Spitzenteam TTC Eastside und der ehemaligen Berlinerin Kristin Lang vermutlich die besten Chancen auf ein Ergebnis in Medaillennähe zuzutrauen. Boll machte während der Vorbereitung auf Budapest aus seiner Unzufriedenheit keinen Hehl. „Ich bin nicht in bester Verfassung. Durch Schulterprobleme haben sich Fehler in mein Spiel eingeschlichen", beschrieb Boll im Vorfeld seine persönliche Situation. Zudem musste der Rekordeuropameister zuletzt in der Bundesliga sowie kurz davor bei den Qatar Open in Doha zum Teil unerwartete und klare Niederlagen hinnehmen. „Solche Ergebnisse kratzen schon am Selbstvertrauen", gestand der Düsseldorfer. Allerdings können die Schwierigkeiten in der Vorbereitung für Boll auch ein gutes Omen sein. „Immer", meinte Boll schmunzelnd, „immer wenn ich vor einem großen Turnier nicht in Form war und ein schlechtes Gefühl hatte, ist daraus ein gutes Turnier geworden."
Tatsächlich hat Boll schon öfters trotz Problemen auf dem Weg zu einem bedeutenden Wettbewerb überraschen können. Erst im vergangenen Herbst bei der Europameisterschaft im spanischen Alicante marschierte der Linkshänder trotz einer zuvor wochenlangen Zwangspause aufgrund von Nackenproblemen zu seinem siebten Einzeltitel durch. Doch selbst in Bestform wäre für Boll die zweite WM-Einzelmedaille nach Bronze 2011 keine Selbstverständlichkeit. Aufgrund der Setzliste ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass der zweimalige Weltcup-Gewinner bei einem erwartungsgemäßen Verlauf des Turniers spätestens im Viertelfinalmatch auf einen der drei Top-Chinesen um den Weltranglistenersten und derzeitigen WM-Zweiten Fan Zhendong trifft.
Im Doppel rechnete sich Boll nach zwei vergeblichen Versuchen mit Chinas Superstar Ma Long vor der WM jedenfalls mehr aus. Beim hochkarätig besetzen WM-Probelauf in Katar zogen der deutsche Rekordmeister und sein Doppelpartner Patrick Franziska immerhin ins Endspiel ein. „Im Doppel sehe ich beinahe größere Chancen auf eine Medaille als im Einzel", betont der deutsche Rekordmeister seinen Glauben an die Stärke des Duos. „Immer wenn wir zusammengespielt haben, haben wir auch gut gespielt."
Gut spielen auch Nina Mittelham und Kristin Lang zusammen. Nach dem Titelgewinn bei der Europameisterschaft im vergangenen Herbst trauen Experten dem neuen Top-Paar von Damen-Bundestrainerin Jie Schöpp in Ungarn durchaus eine Überraschung zu.
„Ich bin gut drauf in letzter Zeit"
Die gewachsene Wertschätzung steht in unmittelbarem Zusammenhang mit Mittelhams Leistungssteigerung in den vergangenen Monaten. Höhepunkt der positiven Entwicklung der 22-Jährigen ist Anfang März der Titelgewinn bei der Deutschen Meisterschaft in Wetzlar durch einen Finalsieg gegen die früher ebenfalls für Berlin spielende Europe-Top-16-Gewinnerin und deutsche Spitzenspielerin Petrissa Solja gewesen. „Ich bin gut drauf in letzter Zeit und hoffe, dass es so weitergehen kann. Ich will bei der WM nach Möglichkeit mein bestes Tischtennis zeigen", sagte Mittelham vor der Abreise nach Budapest zu ihrer allgemeinen Verfassung.
Die Verbesserung ihres Niveaus führt die im Sommer vom TuS Bad Driburg an die Spree gekommene Rheinländerin vor allem auf zwei Gründe zurück. „Ich bin jetzt fast ein Jahr ohne Verletzungen geblieben und merke, dass mein Körper dadurch auch unter höheren Belastungen besser mitzieht, das ist wichtig. Aber auch der Wechsel nach Berlin hat mich weitergebracht, denn dadurch kann ich in der Champions League gegen starke Mannschaften weitere wichtige Erfahrungen sammeln", meinte die frühere Jugend-Europameisterin.
Doch trotz ihrer Niveausteigerung sind Mittelhams Olympia-Chancen momentan bestenfalls offen. Weil in Tokio anders als bei WM-Turnieren auch die gebürtigen Chinesinnen Han Ying und Shan Xiaona für Deutschland aufschlagen dürfen, ist im deutschen Damen-Team für den Fall einer erfolgreichen Qualifikation bei den Sommerspielen im nächsten Jahr womöglich nur noch ein Platz frei. Nina Mittelham dürfte sich daher wohl vor allem mit Petrissa Solja einen Zweikampf um das Ticket nach Nippon liefern. Bei den Herren darf sich das derzeitige Top-20-Trio Boll, Ovtcharov und Franziska momentan die größten Hoffnungen auf die Olympia-Teilnahme machen.