Berlin war lange Zeit die Krawall-Hauptstadt. Das stimmt aber längst nicht mehr. Der 1. Mai in Kreuzberg, einst das Aufruhr-Datum schlechthin, ist jetzt ein friedliches Fest. Doch der Gewaltmythos wird weiter hochgehalten.
Eine Demonstration von rund 10.000 Personen gerät in der Innenstadt außer Kontrolle. Im Kern randalieren circa 3.000 meist vermummte Personen. Es werden Pflastersteine, aber auch wiederholt Brandflaschen gegen die Polizisten geworfen. Die Scheiben mehrerer Geschäfte wurden eingeworfen und Läden geplündert: Das ist das Szenario, das die Berliner Polizei regelmäßig im Vorfeld des Straßenfestes in Berlin-Kreuzberg als Worst Case, als schlimmsten Fall, entwirft. Dabei ist es seit genau 18 Jahren selbst in Berlin-Kreuzberg am 1. Mai weitgehend ruhig. Und dennoch hält die Polizei am Krawall-Mythos fest – und an ihren Planungen, mögliche Randale zu verhindern.
Jahr für Jahr sind schon Wochen vor dem Feiertag die Vorbereitungen für das größte Straßenfest der Stadt in Kreuzberg in vollem Gange – 100.000 Besucher kamen im vergangenen Jahr auf die Festmeile rund um Oranienstraße, Mariannen- und Oranienplatz. Inhaber von Ladengeschäften zwischen Kottbusser und Schlesischem Tor stellen ihren Betrieb für den Arbeiterfeiertag um, schaffen vor allem Getränke heran. Imbissbudenbesitzer sind schon Tage vorher aus dem Häuschen: „Das ist der beste Tag im ganzen Jahr. So viel Umsatz mache ich nur am 1. Mai", verrät Imbiss-Mann Yüksel. Kein Wunder: Vom Mittag bis zum nächsten Morgen werden so viele Menschen wie sonst nie durch den Kiez stromern. Auf der Suche nach dem Kick, vielleicht auch nach ein bisschen Action und beim Mitwippen vor all den im Kiez verteilten Musikbühnen bekommen viele Durst. Für eine kalte Dose Becks, Warsteiner oder eine Cola beim improvisierten Händler im Hauseingang werden bis zu drei Euro fällig, Billigsorten sind schon für einen Euro zu haben. Immer noch ein satter Gewinn. Der von der Polizei angekündigte Krawall hat sich für viele in ein lukratives Geschäft verwandelt.
Imbissbuden machen den besten Umsatz
Grundlage aller 1.-Mai-Aktivitäten war eigentlich eine politische Kampfansage: Das kapitalistische System soll gestürzt werden. Jährlicher Höhepunkt des Straßenfestes ist denn auch die „Revolutionäre 1. Mai Demonstration". Jahr für Jahr versammeln sich Punkt 18 Uhr alle möglichen Initiativgruppen, Kleinstparteien oder Bewegungen, die den Rest des Jahres eher im politischen Hintergrund wirken. Am Tag der Arbeit erblicken diese zum Teil kuriosen Vereinigungen das Licht der Welt, zumindest das von Kreuzberg. Ärger gibt es meist schon im Vorfeld. Die Lesben sollen hinter den Schwulen laufen und protestieren, die Marxisten fordern beim Marsch eine klare Trennung von den Leninisten. Die Maoisten sollen ganz nach hinten, wegen der Menschenrechte. Doch da wollen sie nicht hin. Beherrscht wird die Debatte von der dringlichen Frage: „Was hat der schwarze Block vor?" Aus seinen Reihen flogen früher immer zuerst die Steine und Böller. Jedes Jahr lässt sich der schwarze Block nicht in die Karten schauen und verrät seinen Demo-Plan nicht – was ebenso regelmäßig die Frage aufwirft, ob es einen Plan überhaupt gibt. Ohnehin ist der Mythos schwarzer Block in die Jahre gekommen. Das heißt nicht, dass im ausschließlich schwarz gekleideten Teil der Demo nur Grauhaarige am Start sind, im Gegenteil: Es sind fast nur junge Menschen dort, aber ihre Intention ist eine andere als vor 20 Jahren. „Der Großteil ist eher wegen des Dabeiseins dabei. Ist halt der alte Mythos", erzählt Marius. Er kennt sich aus, ist schon seit mehr als 30 Jahren in Kreuzberg mit von der Partie, wenn auch heute nur noch als Zaungast. „Schau Dir die Leute an: Hippe Typen in Designer-Turnschuhen, dazu teure Sonnenbrille und US-Basecap. Und natürlich sind sie vermummt", lästert Marius, mittlerweile Mitte 40. „Die Mädels sind ähnlich gekleidet und vor allem mit Selfies beschäftigt – peinlich!" Bundesweit sollen ja alle wissen, wie gefährlich man da momentan in Berlin-Kreuzberg unterwegs ist, darum geht es. Die Zeiten haben sich geändert. Heute schlagen die Online-Fotos den Inhalt.
Polizei übt die große Lage
Zurück zum eigentlichen Demonstrationszug. Ist der unterwegs, weiß auch die Polizei: Jetzt beginnt für sie der aktive Teil des Tages. Seit rund drei Jahrzehnten sind immer Kollegen aus ganz Deutschland mit vor Ort. Der Einsatz ist bei Bayern, Saarländern, Hessen, Pfälzern, Niedersachen oder Westfalen berüchtigt. Nicht wegen der Krawalle, sondern wegen der Unterbringung und Verpflegung: Tausende Polizisten könnten stundenlang über kaltes Essen, feuchte Turnhallen und kaputte Duschen erzählen. Kein anderer Auftraggeber sorgt so schlecht für seine polizeilichen Kräfte wie Berlin, heißt es. Auch davon gehört vieles zum Mythos – Dabeisein ist schließlich alles. Dennoch, der Einsatz hat aus polizeilicher Sicht etwas ganz Besonderes: Nirgendwo kann eine sogenannte Große Lage authentischer geübt werden, als in Berlin am 1. Mai. Enge, unübersichtliche Straßenzüge, wilde Freiflächen und eine schier unübersichtliche Zahl von Statisten bilden das perfekte Übungsterrain. Der Demonstrationszug im vergangenen Jahr ließ sich aus polizeilicher Sicht gut führen, vor allem der schwarze Block spielte mit. „Damit die richtige Stimmung aufkommt, wird die Demo von uns ohne ersichtlichen Grund angehalten. Das bringt Unruhe und wir rücken noch ein bisschen enger ran", erzählt ein Hundertschaften-Führer der Berliner Polizei, der schon seit Jahren dabei ist. Irgendwann geht es weiter. Natürlich fliegen Böller und leere Bierflaschen Richtung Polizei. „Da üben wir Zugreifen und die Angreifer aus der Menge zu holen, sich auf engstem Raum gegenseitig zu decken und dabei deeskalierend die Ordnung zu erhalten", sagt der Polizeiführer und lacht. Dann muss die Menge wieder beruhigt werden. Irgendwann kommt der ganze Zug schließlich endgültig zum Stehen, Kessel werden gebildet. Einsatzgruppen der Polizei üben dann das Verlegen von Kräften, kreuz und quer durch die Demo hindurch. „Zug 1 löst den dritten ab. Die Raumdeckung rückt vor …" Die Demonstranten werden unterdessen mit Bier versorgt.
Katz-und-Maus-Spiel mit Polizei bis spätnachts
Im vorigen Jahr bestellten sich ein paar Spaßvögel eine Pizza beim Lieferservice. Der war auf dem Fahrrad unterwegs und lieferte was zu beißen für den schwarzen Block. Schließlich tanzten die „Militanten Autonomen" dann noch zu US-Dance-Hits, die laut aus einer Dönerbude gespielt wurden. Bier- und Fleischbestände waren nach einer Stunde restlos ausverkauft. Für den Besitzer einmal mehr das Geschäft des Jahres.
Das alles geht über Stunden, während sich die Menge der Demonstrierenden reduziert. „Wer aufs Klo muss, kommt zwar raus aus der Demonstration, aber nicht wieder rein", erzählt Demo-Neuling Tabata aus bitterer Erfahrung. Hat sich so dann die Party-Spreu vom vermeintlich „harten Kern" getrennt, werden die „kampferprobten" Berliner Polizei-Hundertschaften nach vorne geschickt, und ihre Kollegen aus dem übrigen Bundesgebiet gehen in den Raumschutz. Es beginnt das übliche Katz-und-Mausspiel, meist bis weit nach Mitternacht. 2018 brannten ganze vier Müllcontainer. Fünf Polizisten wurden leicht verletzt, so das Fazit nach der Demo, es gab Festnahmen „im unteren zweistelligen Bereich".
Das ganze Spektakel ist noch gar nicht richtig zu Ende, da gehen schon die nächsten Hundertschaften an den Start: Die Handreiniger der Berliner Stadtreinigung. Damit am nächsten Morgen alle Straßen vom Müll befreit sind und der Berufsverkehr wieder rollen kann.